Entrissen
weiteres Lachen. »O nein, schwul war er nicht.«
Phil spürte, wie sich mit jedem Wort, das er hörte, eine entsetzliche Ahnung in ihm aufbaute. Er wusste, wie die Geschichte weitergehen würde. »Und ...« Fast fürchtete er sich davor, die nächste Frage zu stellen. »Was hat Ihr Vater mit ihm gemacht?«
»Ihm Frauenkleider angezogen.«
Phil nickte. Etwas Ähnliches hatte er erwartet. Doch als er in Sophies Gesicht sah, spürte er, dass noch mehr dahintersteckte. »Was noch?«
»Hat ihn zu dem gemacht, was er haben wollte. Zu ...«
»Zu Ihnen?«
Sophie nickte und schlug die Augen nieder. Trotz all der schrecklichen Dinge, die sie ihm offenbart hatte, spürte er ein klein wenig Genugtuung. Dieser Blick, diese Geste bedeutete, dass sich in ihrem Innern unter all den Verletzungen und dem Wahnsinn doch noch ein letzter Rest von Menschlichkeit verbarg. Dort musste er ansetzen, ihn musste er zum Vorschein bringen.
»Heston hat also Ihren Platz eingenommen.« Sie nickte wieder. »Aber auf Dauer war unser Vater nicht zufrieden damit.«
»Weil er nicht schwul war.«
Sie nickte wieder. »Eine Zeitlang hat er's mitgemacht. Aber irgendwann ...« Sie zitterte, als berichte sie alles aus eigener Erfahrung.
»Irgendwann was? Was ist passiert, Sophie?«
»Er hat sich dafür gehasst«, sagte sie, und ihre Worte waren voller Bitterkeit. »Er hat sich gehasst und er hat Heston gehasst. Dafür, was sie miteinander gemacht haben. Er hat ihn geschlagen. Ausgepeitscht.«
Phil unterdrückte einen Schauder. »Und Heston hat das alles über sich ergehen lassen?«
Sie nickte wieder. »Er hatte Angst. Außerdem blieb ihm keine Wahl.« Plötzlich blickte sie auf und sah sich um, als sei sie aus einer Trance erwacht, als sähe sie diesen Raum, in dem sie saß, zum allerersten Mal. »Ich will was zu trinken«, sagte sie laut. »Und ich will eine Pause machen. Ich muss was trinken.«
»Es dauert nicht mehr lange, Sophie. Lassen Sie uns weiterreden, nur noch ein bisschen.«
»Nein! Ich will was zu trinken. Ich will eine Pause.«
Phil konnte jetzt keine Pause machen, er musste weitermachen. Er stand kurz vor dem Durchbruch, hatte sie fast so weit. Er durfte jetzt nicht aufhören. Sie musste weiterreden. Sie musste ...
Er sah sie an. Von ihrem früheren Selbst war nichts geblieben. Kein Sex-Appeal, keine Reize mehr. Er hatte eine zerstörte Frau mit einer zerstörten Seele vor sich. Er würde jetzt kein Wort mehr aus ihr herausbekommen, erst wenn sie wieder bereit dazu war. Er seufzte und sah auf die Uhr. Beugte sich über das Aufnahmegerät.
»Vernehmung unterbrochen um ...«
72
Hesters Ehemann war zurückgekehrt. Sie hatte seine Anwesenheit gespürt, seine Stimme aber nicht gehört. Sie hatte versucht, mit ihm zu reden, aber keine Antwort erhalten. Irgendwann hatte sie es aufgegeben. Und dann, ebenso plötzlich, wie er aufgetaucht war, war er auch schon wieder verschwunden und hatte sie allein gelassen. Mit dem Baby.
Sie war nervös, fühlte sich unbehaglich. Sie konnte sich auf nichts konzentrieren. Ihr Herz pochte wie wild, während sie darüber nachdachte, was alles passieren konnte. Vielleicht würde die Polizei das Haus stürmen und ihr das Baby wegnehmen. Sie blickte auf den Säugling herab, er war eingeschlafen, kurz nachdem ihr Mann weggegangen war. Sie bemühte sich immer noch, Gefühle für das Baby zu entwickeln - gute, warme Gefühle -, aber es klappte einfach nicht. Vielleicht wäre es gar nicht das Schlechteste, wenn ihr das Baby weggenommen würde? Dann hätte sie jedenfalls endlich Ruhe. Wäre wieder allein mit ihrem Mann.
Sie schloss die Augen und versuchte ihn zu rufen. Keine Antwort. Sie rief ihn wieder, diesmal lauter. Nichts. Das Baby regte sich. Sie schenkte ihm keine Beachtung, sondern lauschte angestrengt in die Stille hinein.
Noch immer nichts.
Ein Schauer durchlief sie. Vielleicht war er für immer weggegangen. Vielleicht würde er nie mehr zurückkommen. Vielleicht hatte er sie verlassen.
In ihrem Kopf begann sich alles zu drehen, die Gedanken überschlugen sich.
Nein. Das konnte er nicht tun. Er konnte sie nicht schon wieder allein lassen. So wie damals ...
Sie versuchte, nicht daran zu denken, aber die Erinnerung war stärker. Damals, als sie so einsam gewesen war, als sie die ganze Zeit vor Angst geweint hatte. Bevor ihr Mann aufgetaucht war, um sie zu lieben. Bevor sie eins geworden waren. Ein schreckliches Gefühl stieg in ihr hoch, eins, das sie ihr ganzes Leben schon mit sich
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