Entrissen
herumtrug. Es war das Gefühl, das sie von allen Gefühlen am meisten hasste: die Angst vor dem Alleinsein, die Angst, nicht geliebt zu werden.
Und ausgerechnet jetzt konnte sie ihren Mann nicht erreichen. Bestimmt würde man sie bald schnappen.
Das durfte sie nicht zulassen. Er durfte sie nicht allein lassen. Dann würde sie sterben. Sie brauchte ihn doch. Sie musste ihn finden.
Sie rief nach ihm, schrie, so laut sie konnte.
Nichts.
Noch einmal.
Noch immer nichts. Nur das Baby war davon aufgewacht. Es weinte und schluchzte, erst zaghaft, dann immer lauter und anhaltender, je mehr es die Kraft seiner Lungen entdeckte.
Und da waren sie schon wieder, diese alten Gefühle. Sie stiegen in Hester hoch und warteten darauf, sich ausbreiten zu können.
Das Baby brüllte weiter.
Hester sank auf die Knie, unfähig, den Gefühlen Einhalt zu gebieten. Sie musste sie rauslassen. Sie warf den Kopf zurück, kniff die Augen zu und schrie, so laut sie konnte. Sie hämmerte mit den Fäusten auf den Boden, bis ihre Knöchel schmerzten, dann schlug sie sich gegen den Kopf. Und die ganze Zeit über schrie sie.
Irgendwann hörte sie erschöpft auf, aber die Schreie in ihrem Kopf gingen weiter. Sie schlug die Augen auf, doch noch immer hörte das Geschrei nicht auf. Erst jetzt fiel es ihr wieder ein: das Baby. Sie hatte ein Baby.
Eine neue Empfindung machte sich in ihr breit, die leichter zu identifizieren war: Hass. Wenn das Baby nicht wäre, wäre sie jetzt nicht in dieser schrecklichen Lage. Ihr Mann wäre bei ihr, und diese Leute - wer auch immer sie waren - würden nicht nach ihr suchen. Nach ihnen. Das verdammte Baby. Das Baby war an allem schuld.
Sie stand auf und trat ans Bettchen. Starrte die winzige, schreiende Gestalt aus tränenfeuchten Augen an.
Es schrie. Sie schrie zurück. Es schrie lauter. Hester schrie noch lauter. Aber was auch immer sie tat, es wollte einfach nicht aufhören. Also bückte sie sich, hob es aus dem Bettchen, hielt es vor sich hin und schrie ihm direkt ins Gesicht, mit weit aufgerissenem Mund, als wolle sie es verschlingen. Sie schrie und schrie ...
Irgendwann verstummte das Baby. Hester war überrascht. Unsicher blickte sie sich um, als könne sie ihrem Glück nicht so recht trauen. Aber tatsächlich, es hatte aufgehört zu schreien. Sie lächelte. Das stand nicht in den Büchern. Das hatte sie selbst erfunden.
Sie legte das Baby wieder in die Wanne und war sehr zufrieden mit sich. Doch dann kehrte die Wirklichkeit zurück: Ihr Mann war weg. Sie waren hinter ihr her.
Sie versuchte, ihrer Angst nicht nachzugeben. Sie musste sich zusammenreißen, musste nachdenken. Irgendetwas unternehmen.
Wieder sah sie das Baby an und kämpfte mit ihrem aufsteigenden Hass. Das Baby trug die Schuld an allem, das war völlig klar. Das spürte sie an dem Zorn in ihrem Innern.
Sie könnte es umbringen. Das wäre eine Möglichkeit. Ihm die Hände um den Hals legen und zudrücken. Sie würde nicht mal besonders fest drücken müssen, es war so winzig. Seine Knochen würden unter ihren Fingern brechen wie Reisig. Ein Kinderspiel.
Probehalber legte sie ihm die rauen, schwieligen Hände um die Kehle.
Das Baby sah zu ihr auf. Es hatte große, blaue, kugelrunde Augen, die ihr aus seinem winzigen Mondgesicht entgegenleuchteten.
Hester zog die Hände zurück. Sie konnte es nicht tun. Nicht wenn es sie so anstarrte.
Sie betrachtete es eine Weile mit ausdrucksloser Miene, beobachtete, wie es strampelte, mit den Armen in der Luft herumfuchtelte und die Händchen zu Fäusten ballte.
Wenn es schläft, dachte sie. Sobald es die Augen zugemacht hat.
Dann werde ich es töten. Und danach laufe ich weg.
73
»Wir haben getan, was wir konnten.« Anni erstattete Phil im Beobachtungsraum Bericht. »Mir ist aufgefallen, dass sie bei Wrabness kurz gezögert hat, also habe ich den Ort überprüft. Ohne Ergebnis. Gail Johnson, Sophia Gale, Sophia Johnson -nichts.«
Phil seufzte frustriert und betrachtete Sophie durch den Spiegel. Sie saß auf ihrem Stuhl, die Beine ausgestreckt, die Arme vor sich auf dem Tisch. Ganz anders als die innerlich verkrampfte, steife Person, der er begegnet war, als er den Raum zum ersten Mal betreten hatte.
Langsam dringe ich zu ihr durch, sagte er sich. Bald habe ich ihren Panzer geknackt.
Im Beobachtungsraum herrschte bedrückende Enge. Fast jeder, der irgendetwas mit dem Fall zu tun hatte, war da: Anni, die Birdies und so viele andere Polizisten, wie Platz gefunden hatten. Sie alle
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