Entrissen
gewesen, hätte sie rübergehen, ans Fenster klopfen, mit ihren Polizeiausweis winken und den beiden den Schreck ihres Lebens einjagen können. Nichts da, sie war zum Observieren hier. Aber verlockend war die Vorstellung schon - nicht, weil die beiden das Gesetz missachteten, sondern weil sie schon so lange keine Beziehung mehr gehabt hatte, dass sie ganz einfach neidisch war.
Schade, dass es mit Clayton und ihr nicht geklappt hatte. Die gegenseitige Anziehungskraft war da gewesen. Sie waren ein einziges Mal zusammen etwas trinken gegangen - nur um zu sehen, ob sie auf der Arbeit so gut miteinander auskamen, weil sie sich einfach gut verstanden, oder ob da mehr zwischen ihnen war. Du liebe Güte, war das erst gestern Abend gewesen? Es kam ihr vor, als sei es bereits Jahre her. Ja, sie waren danach in seiner Wohnung gelandet. Und ja, sie hatten Sex gehabt. Oder zumindest etwas Ähnliches wie Sex. Besonders gut war es nicht gewesen. Sie hatten es eher aus einem gewissen Pflichtgefühl dem anderen gegenüber getan als aus glühender Leidenschaft. Der Morgen danach war erstaunlich entspannt verlaufen, und sie beide hatten über ihr Experiment herzlich gelacht.
Damit war die Sache abgehakt, ihre Frage war beantwortet: Sie waren gute Freunde, mehr nicht. Anni hätte ohnehin nicht mehr gewollt. Sie kannte Claytons Ruf. Um keinen Preis wollte sie eine seiner Eroberungen sein. Jemand, mit dem er bei seinen Freunden in der Kneipe angeben konnte. Der One-Night-Stand hatte ihr gereicht.
Sie beobachtete, wie sich die Gestalten voneinander trennten. Die Person auf dem Beifahrersitz zupfte sich Kleider und Haare zurecht und stieg dann aus. Anni griff nach ihrem Feldstecher. Ein Schauer durchrieselte sie. Die Frau passte exakt auf die Beschreibung von Ryan Brothertons Freundin Sophie.
»Du kleines Biest«, sagte Anni lachend zu sich selbst.
Sie beobachtete, wie Sophie zum Tor ging, es öffnete, die Einfahrt hochging und schließlich im Haus verschwand.
Anni wandte ihre Aufmerksamkeit wieder dem BMW zu. Die Scheinwerfer leuchteten auf, und kurz darauf wendete der Wagen. Gleich würde er an ihr vorbeikommen. Sie hob das Fernglas an die Augen und versuchte, einen Blick auf den Fahrer zu erhaschen.
»Das gibt es doch nicht...«
Clayton. Es war ganz eindeutig Clayton!
Annis Gedanken überschlugen sich. Instinktiv griff sie nach ihrem Handy. Aber wen sollte sie anrufen? Phil? Clayton selber? Und was sollte sie sagen? Fragen, was los sei?
Seufzend legte sie das Handy wieder weg. Nein. Sie würde bis zum Morgen warten und ihren Kollegen dann zur Rede stellen.
Ihr Blick wanderte wieder zum Haus, allerdings rechnete sie nicht mehr damit, dass noch etwas passieren würde. Ihre Gedanken rasten. Kalt war ihr nun endgültig nicht mehr. Im Gegenteil: Sie schwitzte.
Und sie war wütend.
So schnell ließ sich Clayton also mit einer neuen Frau ein. Die Tatsache, dass zwischen ihnen nichts Ernstes gewesen war, spielte dabei keine Rolle. Es war einfach nur respektlos. Und nicht nur das - die Frau war auch noch Zeugin in einer Mordermittlung! Das war eine ernste Sache. Jetzt war Anni hellwach.
Sie saß da und beobachtete weiter das Haus. In ihrem Kopf begann es zu arbeiten.
27
Was stehst du hier im Dunkeln rum?
Beim Klang seiner Stimme fuhr Hester zusammen und schlug die Augen auf.
»Ich ...« Sie wusste es selbst nicht. Was stand sie hier im Dunkeln herum? Verwirrt senkte sie den Blick. Sie stand über die Zinkwanne gebeugt, in der das Baby noch genauso dalag, wie sie es hingelegt hatte. »Ich guck mir das Baby an.«
Im Dunkeln?
Sie blinzelte. Konnte sich nicht erinnern, wie lange sie dort gestanden hatte. Sie muss wieder einen ihrer Filmrisse gehabt haben. »Ich ... als ich angefangen hab, es anzugucken, war es noch nicht dunkel.«
Ihr Mann schnaubte.
Was ist mit dem Abendessen?
»Das ist...« Wieder sah sie auf das Baby herab. Es bewegte sich nicht, und sein Atem ging flach. Aber es sah ganz friedlich aus.
Ich warte.
Sie sah zur Küchenzeile herüber. »Ich hol es dir.«
Noch immer etwas verwirrt und orientierungslos, zog sie dem Baby die Decke bis zum Kinn hoch, wobei sie achtgab, es nicht zu wecken, und zündete den kleinen gasbetriebenen Heizofen an. Dann knipste sie die Lampe über dem Baby an. Sie hatte eine Baustellenlampe am Kopfende des Bettchens festgeklemmt, damit sie das Baby immer sehen konnte, egal wo im Haus sie sich gerade aufhielt. Die Lampe war gleißend hell und heiß, beleuchtete nicht nur das Baby,
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