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Entrissen

Entrissen

Titel: Entrissen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tania Carver
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sondern auch das Kondenswasser, das an den nackten Ziegelwänden und am Heizkörper glitzernd hinabtropfte. Aber bald würde es im Haus schön warm sein, dachte sie. Und das Baby war kuschelig eingewickelt.
    Sie muss das schlafende Baby sehr lange angeschaut haben. Das tat sie manchmal, stand einfach stundenlang da und bewegte sich nicht von der Stelle. Dabei verlor sie immer jedes Zeitgefühl, und so hatte sie nicht gemerkt, wie der Tag zum Abend geworden war. Ihren Mann hatte sie auch nicht kommen hören. Aber das war nichts Ungewöhnliches. Normalerweise nahm sie ihn bloß als Stimme in ihrem Kopf wahr. Das genügte, um zu wissen, dass er da war.
    Sie warf noch einen letzten Blick auf das Baby. Nachdem sie sich vergewissert hatte, dass alles in Ordnung war, ging sie in die Küche. Ihr Mann hatte sie eigens für sie gebaut. Er hatte Trockenbauwände aufgestellt, um die Küchennische vom Rest des Hauses abzutrennen, und dann hatte er aus Holzresten Regale und Schränke gezimmert. Er hatte sogar die nackte Steinwand weiß gestrichen. Das gefiel ihr. So sah der Raum gleich viel wohnlicher aus. Und das war wichtig, jetzt, da sie endlich eine richtige Familie waren.
    Sie stand in der Küche und sah sich um. Sie hatte nichts gekocht. Was ließe sich schnell zubereiten? Auf der Arbeitsfläche lagen zwei gehäutete Kaninchen, in einem Korb daneben einige Rüben. Das würde reichen.
    »Wie ... wie wäre es mit Kaninchentopf?«, fragte sie und schloss die Augen. Hoffte inständig, dass ihr Mann nicht merken würde, dass sie nichts vorbereitet hatte.
    Wieder schnaubte er.
Ich hab jetzt Hunger. Was auch immer du machst, mach es schnell.
    Sie nickte, zündete hastig den Gasherd an und setzte einen Topf mit Wasser auf. Sie sah über die Schulter zurück. Das Baby lag immer noch reglos im Bettchen. Es war mucksmäuschenstill. Gut. Dann machte sie sich daran, das Abendessen zuzubereiten.
    Später, nachdem sie und ihr Mann gegessen hatten und sie abgewaschen und die Küche aufgeräumt hatte, kehrte sie wieder zum Baby zurück. Sie konnte sich gar nicht an ihm sattsehen. Schon während des Abendessens war sie ständig aufgesprungen, um nach ihm zu schauen. Ihr Mann hatte ein paar Mal verärgert geknurrt, aber nichts gesagt. Sie hatte insgeheim lächeln müssen. Vielleicht war er ja doch verständnisvoller, als sie gedacht hatte.
    Irgendwann war er dann wieder verschwunden und hatte sie allein gelassen.
    Das Baby hatte schon Ewigkeiten nicht mehr geschrien. Sobald Hester es gefüttert und gewickelt hatte, war es still geworden und in einen tiefen Schlaf gesunken, während sie es in ihren Armen gewiegt hatte. Daran konnte sie sich noch erinnern, bevor alles um sie herum dunkel geworden war. Es hatte in ihren Armen gelegen, mit halb geschlossenen Lidern, so dass von seinen Augäpfeln nur noch ein winziger Streifen Weiß zu sehen gewesen war, und sie hatte auf seinen flachen, rasselnden Atem gelauscht. Es war so klein, so hilflos. Sie hätte mit ihm machen können, was sie wollte. Es knuddeln und an sich drücken. Oder ihm die Finger um den Hals legen und die Luft aus seinem winzigen, zerbrechlichen Körper pressen. Bei dieser Vorstellung war ein Schauer wie ein elektrischer Schlag durch ihren Körper gegangen. Sie hatte die Macht über Leben und Tod. Sie konnte Gott spielen.
    Macht. Zum ersten Mal in ihrem Leben. Bei dem Gedanken hatte sie gelächelt. Kein Wunder, dass viele Leute alles nur Erdenkliche anstellten, um ein Baby zu bekommen.
    Und nun sah Hester auf das Baby herab und überlegte, was sie tun sollte. Vielleicht sollte sie es auf den Arm nehmen, das machten Mütter schließlich so. Aber es sah so friedlich aus, wie es in der Wanne lag. Man konnte kaum sehen, ob es atmete.
    Das war der Moment, in dem Hester begriff, dass vielleicht etwas nicht stimmte.
    Sie beugte sich tiefer über das Baby und richtete die Lampe aus, damit sie besser sehen konnte. Die rosigen Stellen in seinem Gesicht schienen weniger geworden zu sein. Inzwischen war seine Haut fast überall bläulich verfärbt, und auch der Gelbstich schien zugenommen zu haben. Das konnte doch nicht richtig sein. Die Babys im Fernsehen sahen jedenfalls nicht so aus. Und es wimmerte nicht einmal mehr. Irgendetwas stimmte nicht mit ihm.
    »Was jetzt? Was mache ich denn jetzt...?«
    Hilfesuchend sah sie sich um, Panik stieg in ihr hoch. Wenn doch bloß ihr Mann käme! Aber er war nirgends zu sehen. Sie würde allein damit zurechtkommen müssen.
    Was tun, was tun ... Wieder sah

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