Entrissen
Wo Hester einen Schoß hätte haben sollen, war nur eine dumpfe, schmerzhafte Leere. Sie legte ihre Hand an die Stelle, wo sie ihr Herz vermutete, und fühlte totes Narbengewebe. Brache. Ein grausamer Witz von Frau.
Wieder begann sich ihr Inneres zu verdunkeln. Sie schloss die Augen. Sie durfte das nicht zulassen. Nicht jetzt, nicht heute. Denn heute war ein ganz besonderer Tag. Heute war der Tag, an dem sie ihr neues Baby bekommen würde.
Bei dem Gedanken gelang ihr ein Lächeln. Das neue Baby.
Die Dunkelheit verflüchtigte sich. Bald würde ihr Mann zur Arbeit aufbrechen. Und sie würde alles für seine Rückkehr vorbereiten. Sie würde ihr hübsches Kleid anziehen und etwas Schönes zum Abendessen kochen. Vielleicht würde sie sogar ein Bad nehmen, um sich für das Baby hübsch zu machen. Damit sie eine richtige Mutter sein konnte. Denn das war der Beweggrund für alles. Der lange Weg, den sie gekommen war, die Schmerzen, die sie erlitten hatte. Alles nur, um eine richtige Frau zu sein. Eine richtige Mutter.
In einer richtigen Familie.
38
»Also«, sagte Phil. »Ohrstöpsel und Mikro.« Er steckte sich das Kabel hinters Ohr und deutete auf den Schreibtisch, an dem Marina saß. In die Konsole vor ihr waren ein Empfänger und ein Mikrophon eingebaut. »Du hörst alles, was drüben gesagt wird. Wenn du mit mir sprechen willst, musst du den Schalter hier umlegen. Ich kann dich hören, aber Brotherton nicht.«
Marina rang sich ein kleines Lächeln ab. »Ich habe nicht alles vergessen.«
Er hielt inne und sah sie an. An seinem Blick erkannte sie, dass ihre Antwort durch die dünne Schale gedrungen war, die seine persönliche Gefühlswelt von seinem professionellen Verhalten trennte. Das war nicht ihre Absicht gewesen. Ganz bestimmt nicht jetzt.
»Bring es einfach hinter dich«, sagte sie. »Dann können wir ihn so schnell wie möglich abhaken.«
»Scheint dein Motto zu sein«, meinte Phil leichthin.
Marina gab keine Antwort.
»Also«, sagte er, um das Thema zu wechseln. »Dieselbe neurolinguistische Verhörtechnik, die wir das letzte Mal angewandt haben?«
»Warum nicht?«, meinte Marina. »Schließlich hat es gut funktioniert.«
Sie nickte und blätterte noch einmal durch die Akte, die vor ihr auf dem Tisch lag, obwohl sie ihren Inhalt bereits zahllose Male gelesen hatte und bestens vorbereitet war. In gewisser Weise spielte es ohnehin keine Rolle, was in der Akte stand oder was für Notizen sie sich im Voraus gemacht hatte. Sie musste dem Gang des Verhörs folgen, stets aufmerksam sein und nur dann intervenieren, wenn sie das Gefühl hatte, dass Phil etwas übersehen hatte oder dass eine bestimmte Fragestellung noch vertieft werden könnte.
»Hör mal«, meinte Phil plötzlich. »Die Sache vorhin mit Fenwick ...«
»Darüber sollten wir jetzt besser nicht nachdenken«, empfahl sie.
Phil nickte. »Stimmt. Selbst an guten Tagen ist er ein Idiot. Und wenn er unter Druck steht, wird es nur noch schlimmer.« Sie lächelte. »Da hast du recht.«
Der Beobachtungsraum war funktional eingerichtet. Der Schreibtisch war schlicht - helles Holz und Metall - und hätte in jedem beliebigen Büro des Landes stehen können. Die Wände waren in zwei unterschiedlichen Beigetönen gestrichen, der Teppichboden verkehrsgrau, passend zum Aktenschrank. Es gab zwei schwarze Bürostühle, beide stark abgenutzt. Halogenleuchten spendeten kühles, diffuses Licht; eine Schreibtischlampe sorgte für zusätzliche Beleuchtung. Der Raum war eng und stickig, aber nicht beklemmend. Zum einen wirkte der Spiegel mit Blick in den Vernehmungsraum nebenan wie ein Fenster. Aber der Hauptgrund war die Funktion des Raums an sich. Hier herrschte ein ganz besonderes energetisches Knistern, das nicht nur vom Nylonteppichboden herrührte, sondern daher, dass jeder, der den Raum benutzte, dies einzig und allein mit dem Vorsatz tat, das Leben anderer zu kontrollieren. Und diese Kontrolle bedeutete Macht, und Macht Überlegenheit. Das Gefühl konnte zum Rausch werden, wenn man es zuließ. Marina konnte gut nachvollziehen, warum viele Polizisten auf Außenstehende arrogant wirkten.
Zum Glück war Phil anders. Noch immer nestelte er neben ihr an den Kabeln und dem Akku seines Mikrophons herum. Ohne großen Erfolg. Jedes Mal, wenn er den Akku in seinen Hosenbund steckte, fiel oben der Ohrstöpsel heraus.
»Mist...«
»Lass mich mal.«
Marina stand auf und nahm ihm den Ohrstöpsel aus den Fingern. Sie trat ganz dicht an ihn heran und steckte
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