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Entrissen

Entrissen

Titel: Entrissen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tania Carver
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machte sie sich nicht die Mühe und ließ ihren kahlen Schädel unbedeckt, aber das tat sie nie lange, denn es verwirrte und bedrückte sie. Wenn sie eine Frau war, dann musste sie auch Haare haben, so einfach war das. Also trug sie die Perücke. Sie war alt und verfilzt, aber Hester bürstete regelmäßig die Knoten aus und kaschierte die kahlen Stellen. Normalerweise gelang ihr das, aber manchmal nicht und sie musste ihr Kopftuch für draußen auch im Haus tragen.
    Sie nahm die Hände vom Kopf und legte sie auf ihre Wangen. Sie rasierte sich regelmäßig, damit sie so glatt wie möglich waren. So gefiel es ihrem Mann. Ausflüchte gab es nicht. An scharfen Klingen herrschte im Haus kein Mangel.
    Ihre Hände wanderten weiter über ihre Schultern und das Schlüsselbein hinab zu ihren Brüsten. Sie wusste, dass sie ihre Brustwarzen berührte, weil sie es im Spiegel sah, aber fühlen konnte sie nichts. Sie drückte fester zu, grub ihre Nägel tief ins Fleisch, bis es weiß wurde. Noch immer spürte sie nichts. Erneut senkte sich eine dunkle Traurigkeit über sie. Sie hatte gewusst, dass das passieren würde, sobald sie ihre Brüste berührte. So war es immer.
    Es erinnerte sie an die Nacht mit dem Messer und daran, was danach passiert war. Sie hatte zum Messer gegriffen, weil sie seine Worte nicht länger ertragen konnte. Seine Stimme. Diese Stimme voller Wut und Hohn. Die Stimme ihres Vaters. Die Hester sagte, was sie war und was sie nicht war. Der Vater schlug sie. Tat ihr weh. Und dann ging er zu Hesters Schwester. Mit einem Lächeln im Gesicht. Weil sie sein Liebling war. Daraus machte er keinen Hehl. Mit ihr machte er besondere Dinge, schon seit sie ganz klein war. Hester hasste ihn dafür. Sie hasste, was der Mann mit der Schwester tat. Aber noch mehr hasste sie, dass er es nicht mit ihr tat. Weil Hester nichts Besonderes war wie sie. Und es auch niemals sein würde.
    Seine Schwester hasste ihren Vater so sehr, dass sie versucht hatte zu fliehen. Sie war schließlich entkommen. Hester war geblieben. Und dann hatte sich alles geändert. Sie konnte sich nicht mehr daran erinnern, was genau passiert war. Jedes Mal, wenn sie an jene Zeit zurückdachte, wurde die Erinnerung trübe. Als hätte sie sie aus ihrem Gedächtnis gelöscht. Aber einige Dinge wusste sie noch. Ihr Vater war irgendwann verschwunden. Und dann war ihr Ehemann aufgetaucht. Und jetzt waren sie sich so nahe, dass sie ihn sogar in ihrem Kopf hören konnte. Immerzu erklang seine Stimme in ihrem Kopf, als stünde er nicht neben ihr, sondern wäre in ihr, ein Teil von ihr. Das gefiel ihr. So sollte Liebe sein.
    Und an etwas anderes erinnerte sie sich noch. Etwas, das er gesagt hatte, kurz nachdem er zum ersten Mal erschienen war und sie nackt gesehen hatte:
Wenn du eine Frau sein willst, mache ich eine Frau aus dir.
Und das hatte er getan.
    Er brachte Hester zu Leuten, die wussten, was man alles mit dem menschlichen Körper machen, wie man ihn verändern konnte. Sie hatten an sich selbst Dinge verändert und präsentierten ihr voller Stolz das Ergebnis ihrer Arbeit. Rasierte, tätowierte, gebrandmarkte Körper. Manchmal fehlten Gliedmaßen, wichtige Gliedmaßen. Oder es waren Teile eingepflanzt worden. Metallene Drachenstacheln oder Stahlkugeln unter der Haut. Gespaltene Zungen wie bei Schlangen.
    Sie führten Hester herum. Nahmen sie mit in Clubs, wo sie zusehen konnte, wie Leute sich auf einer Bühne vor Publikum die Lippen und Augenlider zunähen ließen, wie sie sich ritzen und stechen und auspeitschen ließen, manchmal an Fleischerhaken an der Decke aufgehängt, so dass ihr Blut auf die Zuschauer unter ihnen tropfte. Leute, die sich Schmerzen zufügten, um andere Leute zu unterhalten. Umgeben von Freaks und Außenseitern und Verstümmelten, hatte Hester zum ersten Mal in ihrem Leben das Gefühl, irgendwo dazuzugehören.
    Aber es war nicht von Dauer. Was sie benötigte, war relativ einfach zu bewerkstelligen. Man verhalf ihr zu Brüsten, allerdings keinen besonders guten Brüsten, zumal die Operation im Hinterzimmer eines Clubs im Osten Londons durchgeführt wurde, aber es reichte ihr. Man fragte sie, ob sie anstelle der vernarbten Wunde, die sie sich zugefügt hatte, eine echte Vagina haben wolle, aber ihr Mann entschied, dass das nicht nötig sei. Ein Loch reiche ihm aus, hatte er gesagt.
    Und dann kehrte sie zurück in ihr Haus und ihr neues Leben.
    Und hier war sie nun. Sie fuhr mit den Händen über die vernarbte Stelle zwischen ihren Schenkeln.

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