Entscheidungen
Fieber?
"Mike?"
"Er ist im Krankenhaus, aber er erholt sich wieder." Er räusperte sich.
"Und… Raphael?" Mit einem Mal tauchten wieder die Bilder des kleinen Jungen vor meinen Augen auf. Ich dachte an den Hunter, wie er gestürzt war, direkt auf mich zu.
"Entkommen. Aber die meisten Menschen haben überlebt. Sie sind gerade noch rechtzeitig gekommen."
"Und wie sind wir daraus gekommen?"
"Ich habe dich getragen."
"Danke."
"Immer."
"Er ist nicht eine Sekunde von deiner Seite gewichen, mein Kind."
"Ich sah auf und entdeckte wieder die weißhaarige, alte Dame. Jona. Jona, auf die ich so eifersüchtig gewesen war.
Ich lächelte beschämt.
"Du lächelst. Deine Genesung schreitet bemerkenswert gut voran." Sie erwiderte mein Lächeln.
"Ich fühle mich… ok."
"Das kommt von dem Blut."
"Blut?"
"Später, mein Kind, später. Du musst dich ausruhen."
Abrupt setzte ich mich auf. Ich war wieder eingeschlafen, doch ich fühlte mich nicht mehr schwach. Ein ungewohnt kraftvolles Gefühl durchflutete meinen ganzen Körper. Was war geschehen? Wie lange hatte ich geschlafen?
Durch die dicken Samtvorhänge sah ich das Licht der Sonne.
Ich blickte mich um. Ich war in Sams Zimmer, doch wo war Sam?
Vorsichtig stand ich auf und hielt mich an einem der Bettpfosten fest. Ich hatte ein langes, schwarzes Hemd an, eines, was Sam gerne trug, und meine Locken hingen wirr auf meine Schultern hinab.
Langsam tappte ich auf das Fenster zu.
Als ich die Vorhänge beiseiteschob, blendete mich augenblicklich das grelle Licht, und ich schloss unmittelbar die Augen. Die Strahlen wärmten mein Gesicht, und ich genoss das vertraute Gefühl auf meiner Haut. Die Nacht war vorbei. Und ich hatte überlebt.
Oder hatte ich das alles nur geträumt?
Die Tunnel, das Fest, die Vampire.
Raphael.
"Lily!" Ich spürte einen sanften Stoß, als Sam mich vom Fenster wegzog und die Vorhänge wieder zufallen ließ.
"Was ist denn los?"
"Es ist hell." Er sah mich mit gerunzelter Stirn misstrauisch an.
"Es ist schön warm." Ich verstand nicht, was sein Problem war.
"Du darfst dich nicht überanstrengen."
"Das… tue ich nicht. Es geht mir gut."
"Du warst sehr schwer verletzt."
"Ich kann mich kaum erinnern."
Er zog mich in seine Arme, und ich vergrub den Kopf an seiner Brust.
"Ich dachte, ich hätte dich verloren."
"Wieso?"
"Weil dein Herz nicht mehr schlug."
Ich erstarrte augenblicklich und löste mich von ihm. Vorsichtig legte ich eine Hand auf mein Herz.
Tack, Tack, Tack, Tack. Da war es, das rhythmische Klopfen.
Erleichtert sah ich ihn an. Dann schob ich das Hemd einige Zentimeter weit nach oben. Eine feine rosafarbene Narbe schimmerte direkt unter meinem Herzen.
"Dort hat er dich verletzt." Sam schluckte schwer.
"Es ist… verheilt? Wie lange habe ich denn geschlafen?" Verwirrt sah ich ihn an.
"Nur diese eine Nacht und den halben Tag."
"Ich verstehe das nicht."
"Komm, setz dich." Er führte mich zurück zum Bett, und ich ließ mich widerwillig neben ihm nieder. Die Decke war zerwühlt und auf dem Nachttisch stand ein Glas mit Wasser.
"Du hättest es nicht geschafft. Du…"
Die Zimmertür öffnete sich einen Spaltbreit und Jona steckte ihren Kopf zu uns herein.
"Alles ok?"
"Ja, ich versuche Lily gerade zu erklären, was passiert ist."
"Brauchst du Hilfe?"
Sam nickte, und ich begriff noch immer nicht, warum es ihm so schwer fiel, mit mir zu reden? War doch jemand gestorben? Xander vielleicht oder Vanessa?
Ich bekam augenblicklich Panik. Ein dicker Kloß steckte in meinem Hals fest. Bitte, mach, dass es ihnen gut ging!
Jona schob die Tür noch ein Stück weiter auf und kam zu uns ins Zimmer. Sie sah noch eleganter aus, als ich sie in Erinnerung gehabt hatte. Sie war eine Lady, durch und durch, mit kurzen grauen Locken, rotgeschminkten Lippen und einer teuren Perlenkette um den schlanken Hals.
"Du hast Sams Blut getrunken."
"Was?"
"Du hast Sams Blut getrunken, sonst wärst du gestorben. Du warst sehr schwer verletzt, mein Kind."
"Aber… ich bin kein Vampir? Ich bin nicht verwandelt, oder?" Mein Herz begann heftig zu rasen, ich spürte Schweißtropfen auf meiner Stirn. Nein, ich konnte kein Vampir sein. Ich hatte ein Herz, es schlug und wie es schlug! Ich wollte kein Vampir sein. All die Monate über, in denen ich mir heimlich diese Frage gestellt hatte, ob ich so sein wollte, ein Wesen der Nacht, bekamen jetzt eine mehr als eindeutige Antwort. NEIN! Wie nur musste Sam sich nach seiner Verwandlung gefühlt haben? Ich hatte
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