Entschuldigen Sie Meine Stoerung
Gegenvorschlag, er könne doch auch mal lernen, unbezahlte Stunden auszuhalten, ist er damals nicht großartig eingegangen. Er hat mich nur kurz mit einem Blick wissen lassen, dass er mich auch an eine Elektroschockanlage anschließen könne, wenn ich weiter mit solchen Vorschlägen käme. Damit habe man in der Vergangenheit bei Typen wie mir unglaubliche Erfolge erzielt, und ihm sei das sowieso lieber, da sich sein Gerät noch finanziell amortisieren müsse. (Ich kann unheimlich viel aus Gesichtern herauslesen.) Von Zeit zu Zeit frage ich mich, ob mein Therapeut seinen Beruf überhaupt beherrscht. Ich kann das natürlich nicht beurteilen, ich bin medizinischer Laie, und nur weil ich in den zehn Jahren meiner Behandlung keinerlei Fortschritte gemacht habe, sondern im Gegenteil sogar noch mehr Ängste hinzugekommen sind, gibt mir das nicht das Recht, voreilige Schlüsse zu ziehen. Natürlich habe ich immer wieder mit dem Gedanken gespielt, den Therapeuten zu wechseln. Und sei es nur, um einen Vergleich zu haben. Doch das Risiko wäre mir zu groß. Was, wenn mein Therapeut zufällig sieht, wie ich gerade die Praxis eines anderen Arztes betrete? Für den bricht doch eine Welt zusammen. Und wenn ich dann reumütig zurückkehre, weil der andere Arzt vielleicht doch nicht das Gelbe vom Ei war, denkt er sich: »Klar, jetzt kommt er wieder angeschissen. War wohl nichts mit dem anderen, was?« Dann habe ich meinem Therapeuten nicht nur unrecht getan, was an und für sich schlimm genug ist, sondern ihn auch noch gegen mich aufgebracht. Der behandelt mich doch dann bestimmt mit Absicht falsch. Aus Rache. Und das völlig zu Recht. Würde ich genauso machen. Bestimmt ist mein Arzt ein Top-Therapeut, nur erkenne ich das eben nicht. Also immer tapfer weiter.
Ich traue mich noch nicht einmal, vorsichtig nachzufragen, ob es denn normal sei, dass ich nun seit zehn Jahren wegen meiner Menschenangst bei ihm in Behandlung bin, mittlerweile aber zusätzlich noch unter Höhenangst, Spinnenangst und Therapeutenangst leide. Ich sage Ihnen, die Therapeutenangst ist das Schlimmste. Wir versuchen sie per Konfrontationstherapie anzugehen. Mein Therapeut hat mir vorgeschlagen, zwei Wochen lang mit ihm ans Meer zu reisen, um meine Therapeutenangst zu bekämpfen. Natürlich auf meine Kosten. Seine Familie hat er auch mitgenommen, mich aber, kaum waren wir am Urlaubsort, drei Orte weitergeschickt, damit ich in einem ruhigen Hotelzimmer erst einmal ein paar theoretische Übungen mache. Die dauerten zwei Wochen, und als ich fertig war und das Hotel meines Therapeuten aufsuchte, war der schon wieder abgereist. Meine Therapeutenangst hat sich dank dieser speziellen Form der Konfrontationstherapie nicht wirklich gebessert. Jedenfalls meiner Meinung nach. Mein Therapeut meint aber, doch, ich hätte eindeutige Fortschritte gemacht. Das würde ich in unserem nächsten gemeinsamen Urlaub schon bemerken. Ich glaube ihm das einfach mal. Was bleibt mir übrig? Ich bin ein Laie. Ich gebe mir die Antworten lieber selbst: »Klar ist das normal. Man weiß doch, dass es erst eine Zeitlang schlechter werden muss, bevor es bergauf geht.« Damit gebe ich mich dann zufrieden.
23
Es ist dennoch seltsam, wie viele und vor allem welche Krankheiten im Laufe meiner Therapie hinzugekommen sind. Es gibt diese Momente, in denen ich mich frage: »Ist mein Therapeut überhaupt Therapeut? Oder ist er ein Hochstapler?« Vielleicht fragt er sich ja Ähnliches: »Ist mein Patient überhaupt Patient? Oder ist er am Ende nur ein Hypochonder? Hat er wirklich Angst vor Menschen oder die nicht eher vor ihm? Na ja, mir soll’s egal sein, solange er seine Rechnungen bezahlt.«
Mir wiederum könnte es nur egal sein, solange er seine Rechnungen nicht schreibt. Tut er aber. Verdächtig: Der Mann hat keinen Doktortitel. Jedenfalls steht keiner auf seinem Schild. Ich habe mir leichtsinnigerweise auch nie einen Ausweis oder so etwas von ihm zeigen lassen oder ein Diplom oder was auch immer diese Leute brauchen, um sich Therapeut nennen zu dürfen. Schon danach zu fragen scheint mir ein ungeheuerlicher Vertrauensbruch. Es würde die angenehme Basis zerstören, die in den letzten zehn Jahren das Fundament unserer Zusammenarbeit gebildet hat.
Wann immer mir mein Therapeut mit Elektroschocks droht, vibriert mein Kopf ohne mein Zutun. Was übersetzt »Nein« heißt. Mittlerweile verfüge ich über eine fast unermessliche Bandbreite an körperlichen Ausdrucksweisen für »Nein«. Bei der letzten
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