Entschuldigen Sie Meine Stoerung
Körpersprachenzählung kam ich auf fünfundzwanzig. Eine beeindruckende Zahl, aber kein Therapieerfolg. Dem Ziel meiner Therapie (den Umgang mit Menschen zu erlernen, statt ihnen immer nur aus dem Weg zu gehen), habe ich mich noch nicht genähert. Ein schöner Erfolg wäre es schon, auf eine einzige Art und Weise ganz bewusst Nein zu sagen, statt auf fünfundzwanzig verschiedene Arten unbewusst. Einmal verneinen, ganz klassisch, mit Zunge, Atem und Mund. Das Konzept, das sich hinter dem Wort »Nein« versteckt, ist mir bewusst, intellektuell habe ich es vollständig durchdrungen: Es verhindert, dass ich Dinge tun muss, die ich nicht tun möchte. Aber was soll ich machen, wenn mir diese vier Buchstaben nicht in den Sinn geschweige denn über die Lippen kommen, sobald ich einem Menschen gegenüberstehe? Wo ist das Wort »Nein«, wenn man es einmal braucht? Irgendwo in meinem Körper eingesperrt. Und nicht Nein sagen zu können ist teuer. Es gab Zeiten, da hatte ich sechshundertfünfundachtzig Versicherungen. Eine etwas komplizierte Faustregel heißt: Ja statt Nein bewirkt das Gegenteil. Eines Tages hat dann eben einfach mein Körper für meinen Mund Nein gesagt. Einsprungshandlung quasi. Aber andere so lange zu würgen, bis sie grün anlaufen, hat sich bis heute als Kommunikationsform in unserer Gesellschaft nicht bewährt. Vielleicht zu Unrecht. Den Friseur zu würgen ist zwar eine unmissverständliche Form, ihm mitzuteilen, dass mir meine Frisur nicht gefällt, aber eine gesellschaftlich noch unzureichend akzeptierte. Zu meiner Verteidigung: Ich habe meinem Friseur immerhin fast zwanzig Jahre lang meine Frisur durchgehen lassen und mich jedes Mal nach dem Schnitt künstlich begeistert, vielleicht eine Spur zu übertrieben. Auf die Frage »Und, gefällt’s Ihnen?« habe ich mit Applaus, La Ola, Konfetti, Hupkonzerten und Autokonvoi reagiert. Nur um ihn nicht zu verletzen. Irgendwann ging’s halt nicht mehr. Manchmal habe ich das Gefühl, mein Therapeut genießt mein Schweigen. Ich kann mir nicht helfen, aber wenn ich ihm eine Frage stelle, wirkt seine Reaktion auf mich wie Zeitschinden, zum Beispiel wenn er antwortet: »Lassen Sie uns gemeinsam darüber nachdenken.« Oder er wirft sich auf den Boden und wälzt sich vor Schmerzen wie ein argentinischer Fußballspieler nach einer Windböe. Anschließend vergehen dreißig Minuten. Untermalt von €-Zeichen in seinen Augen. Unter uns: Ich bewundere den Kerl ein bisschen für seine Coolness. Er hat immer die passende Antwort, reagiert auf alles gelassen. Er ist mein Vorbild. Wenn ich mal gesund bin, möchte ich so werden wie er. Wie er mir in jeder Therapiestunde meine Grenzen aufzeigt – brillant. Nur nicht zielführend.
Heute zum Beispiel habe ich die Stunde mit meinem aktuellen Problem begonnen: »Ich leide unter übertriebenen romantischen Gefühlen. Ich verliebe mich in alle und jeden auf den ersten Blick. Allein heute Morgen auf dem Weg zu Ihnen wurde mir dreiundzwanzig Mal das Herz gebrochen, und ein kleiner Hund läuft nun anhänglich hinter mir her. Um mich vor meiner exzessiven Liebe auf den ersten Blick zu schützen, verlasse ich das Haus nur noch mit Augenklappen und Blindenstock.« Das ist doch ein Problem, um das sich so ein Therapeut kümmern müsste. Stattdessen haben wir wieder nur geschwiegen und nachgedacht. Fünf Minuten vor dem Ende kam dann wieder seine Standardformel: »Sie haben recht, das ist eine blöde Sache.« Dann schaute er auf die Uhr und sagte »Machen wir heute mal etwas früher Schluss, ich habe noch Wichtigeres zu tun.«
Im Ernst: Ich finde das eine geniale Lösung. Aber natürlich nur für ihn, nicht für mich. Er bemerkte wohl meinen skeptischen Blick, jedenfalls fragte er: »Wollen Sie lieber den Therapeuten wechseln?« Und ich antwortete tatsächlich: »Nein.«
Geht doch.
2. Teil
1
Hoffnung. Wenn man sie nicht verliert, wird sie einem genommen. Ich bin schon lange ohne und mache mir auch keine mehr. Habe ich mir abgewöhnt. Problemlos. Wie von selbst. Ich kann mich übrigens auch nicht mehr zu früh freuen. Dabei war das jahrelang die einzige Form der Freude, die ich empfunden habe. Hoffnung und Vorfreude wurden mir früh im Leben ausgetrieben. Von meinen Eltern.
Wenn sie unter dem Weihnachtsbaum die Geschenke auspackten – und ich ihnen mit großen Augen dabei zusah. Und mit leeren Händen. Obwohl sie mir in der Zeit vor Weihnachten immer wieder versprochen hatten: »Freu dich auf Weihnachten, da gibt es etwas
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