ENTSEELT
suizidalen Stimmung rief Harry ihnen entgegen: »Nein! Geht dahin zurück, wo ihr herkommt! Das ist ein Versehen!« Wenigstens wollte er das sagen. Aber er kam nur bis zu »geht dahin zurück ...«. Denn es war ihm verboten, mit den Toten zu sprechen.
Doch es war Wellesleys Glück, dass es den Toten nicht verboten war, seine Bitten zu befolgen.
Während Harry sich die Hände gegen den Kopf presste und aufschrie, während er noch wie eine spastische Marionette zuckte und zusammenbrach, ließen die Toten ihre Steine fallen, wandten sich ab und verschwanden in der Nacht.
Wellesley hatte die ganze Zeit kein Wort herausgebracht, aber jetzt fand er seine Stimme wieder. Wenn Darcy Clarke je eine Stimme gehört hatte, in welcher der Wahnsinn mitschwang, dann diese. »Haben Sie das gesehen? Haben Sie das gesehen?«, wimmerte Wellesley. »Ich wollte es ja nicht glauben, aber jetzt habe ich es mit eigenen Augen gesehen. Er hat sie gegen mich heraufbeschworen. Er ist ein Monster, ein echtes Monster! Aber das ist jetzt dein Ende, Harry Keogh!«
Wellesley hatte das leere Magazin aus seiner Waffe katapultiert und auf den Teppich fallen lassen. Er wollte gerade ein volles Magazin aus der Tasche ziehen, als Clarke ihm mit aller Kraft einen Faustschlag versetzte. Die Waffe und das Magazin entfielen seinen Händen, und Wellesley hing leblos da, festgenagelt durch den Armbrustbolzen in der Wand.
Dann erklangen weitere Fußtritte, und einen Moment später stürmte das aus zwei Mann bestehende Verstärkungsteam herein, das sich nicht erklären konnte, was hier vorging. Darcy saß bei Harry auf dem Fußboden und hielt ihn in seinen Armen, während der von Krämpfen geschüttelte Mann seinen Kopf umklammert hielt und seinen unerträglichen Schmerz herauswimmerte, bis er schließlich in den tiefen dunklen Brunnen gnädigen Vergessens versank.
In den neun Stunden, die Harry nach diesen Vorgängen schlief, geschah so einiges. Ein Arzt mit der höchsten Sicherheitsfreigabe wurde herbeigeschafft, um Harry zu untersuchen und Wellesley mit einer Spritze ruhigzustellen. Clarke rief Sandra an, weil er der Meinung war, dass ihre Anwesenheit erforderlich sei. Er war der Ansicht, dass sie eigentlich von Anfang an hätte dabei sein sollen. Und als der Morgen dämmerte und sowohl Wellesley wie auch Harry sich wieder zu regen begannen, rief der diensthabende Beamte aus dem Hauptquartier des E-Dezernats an.
Darcy hatte das Hauptquartier natürlich sofort informiert. Er hatte den Beamten vom Dienst angerufen, sobald sich die größte Verwirrung gelegt hatte, und Bericht über alles erstattet, was passiert war und was er getan hatte. Und unmittelbar darauf hatte er dem zuständigen Minister seinen Rücktritt angeboten. Außerdem hatte er angedeutet, es könne sinnvoll sein, Wellesley zu ersetzen, der offenbar nicht ganz bei Trost war. Und als er im Nachhinein noch einmal Wellesleys Plan überdachte, Harry so zu erschrecken, dass der ins Möbius-Kontinuum flüchten musste – einen Plan, dem er selbst zugestimmt hatte –, da überlegte er, ob bei ihm nicht auch ein paar Schrauben locker gewesen waren.
Nachdem Sandra in höchster Aufregung eingetroffen war und er ihr alles erklärt hatte, hatte sie ihm genau das in ziemlich deutlichen Worten gesagt. Und sie hätte wahrscheinlich noch ein paar Dinge mehr gesagt, wenn es nicht offensichtlich gewesen wäre, dass Darcy sich bereits selbst die schlimmsten Vorwürfe machte. Sie brauchte ihm nicht die Schuld an der ganzen Misere zu geben, weil er das offensichtlich schon selbst tat. Und so saß sie, statt sich aufzuregen und herumzutoben und die Nerven zu verlieren, für den Rest der Nacht und den Morgen über neben Harry und bewachte seinen Schlaf. Vor wenigen Minuten, als alle bei ihrer dritten Tasse Kaffee waren, hatte das Telefon geklingelt. Das Hauptquartier verlangte nach Darcy Clarke. Er nahm den Hörer, und es entwickelte sich ein sehr langes Gespräch. Als er den Hörer wieder auflegte, musste er sich erst einmal setzen und alles überdenken.
Sie hatten Wellesley auf Harrys Bett im ersten Stock gelegt, und einer der Männer aus dem Dezernat war bei ihm. Harry selbst lag auf einer Ledercouch in dem Arbeitszimmer, in dem alles passiert war. Sie hatten eine Decke vor die zerbrochene Verandatür gespannt, um die Kälte der Nacht fernzuhalten. Sandra, Darcy und der andere Polizist waren bei ihm, auch wenn sie nichts anderes tun konnten, als zu warten, bis er aufwachte.
Aber jetzt, nach dem
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