ENTSEELT
Geliebten und so weiter.
Er hätte sein ganzes Leben allein damit verbringen können, die Fragen und die Aufträge der Bewohner nur dieses einen Friedhofes zu beantworten und zu erledigen. Aber kaum war ihm dieser Gedanke gekommen, da verstanden sie ihn auch und erkannten, dass er recht hatte und das mentale Gewusel beruhigte sich schnell.
»Es ist ja nicht so, dass ich das nicht tun will«, versuchte er zu erklären, »ich kann es nur nicht. Wisst ihr, für die Lebenden seid ihr tot und für immer vergangen. Und abgesehen von ein paar Gleichgesinnten bin ich der Einzige, der weiß, dass ihr immer noch hier seid, wenn auch verändert. Meint ihr, es würde etwas nützen, wenn all eure noch lebenden Freunde und Verwandten wüssten, dass ihr immer noch ... da seid? Es würde ihren Kummer nur noch verschlimmern. Sie würden glauben, ihr wäret in einem riesigen und schrecklichen Gefängnis jenseits des Körpers gefangen. Ich weiß, euer Zustand ist schlimm genug, aber nicht so schlimm – und jetzt sowieso nicht mehr, wo ihr gelernt habt, euch untereinander zu verständigen. Aber das können wir euren Hinterbliebenen nicht sagen, denn sonst würde für die, die jetzt nicht mehr trauern und zu ihrem normalen Leben zurückgekehrt sind, das alles von vorn beginnen! Und ich fürchte, es würde immer falsche Necroscopen geben, die dann versuchen, daraus Kapital zu schlagen.«
Du hast natürlich recht, Harry, antwortete ihr Sprecher für sie alle. Für uns bietet sich hier jedoch eine äußerst seltene – sogar eine einzigartige – Gelegenheit, mit einem Lebenden zu sprechen. Aber wir können spüren, wie eilig du es hast, und wir wollten dich ganz bestimmt nicht aufhalten.
Harry ging zwischen den Grabstellen herum, von denen einige ziemlich alt, andere aber noch relativ frisch waren, und fragte: »Was wird das für Auswirkungen auf euch haben? Ich meine, wenn sie hier rundherum alles platt gewalzt haben? Ihr werdet dann immer noch hier sein, das weiß ich, egal was passiert, aber wird es euch nicht quälen, dass eure Grabstellen entweiht sind?«
Aber das wird nicht geschehen, Harry! Ein Baurat aus Ploiesti meldete sich zu Wort. Dieser Friedhof steht unter Denkmalschutz. Ja sicher, viele Friedhöfe sind dem Erdboden gleichgemacht worden, aber wenigstens der hier entkommt dem Wahnsinn von Ceausescu. Ich bin stolz darauf, dass ich meinen Teil dazu beigetragen habe – es musste einfach sein. Angehörige meiner Familie, der Bercius, sind schon seit Jahrhunderten auf diesem Friedhof beigesetzt worden. Und Familien sollten doch zusammenhalten, oder? Radu Berciu kicherte, wenn auch bitter. Ich hatte natürlich nicht damit gerechnet, dass ich selbst davon profitieren würde, wenigstens nicht so schnell. Gerade mal neun Tage, nachdem es mir gelungen ist, diesen Beschluss zu verabschieden, bin ich selbst an einem Herzinfarkt gestorben!
»Gibt es hier noch mehr, die erst vor Kurzem gestorben sind?«, fragte Harry mitfühlend. Er wusste aus früheren Erlebnissen, dass dies diejenigen waren, die am meisten litten, da sie sich noch nicht vom Todestrauma erholt hatten. Wenigstens mit ihnen konnte er sich kurz unterhalten, bevor er weiterreiste.
Schließlich fanden zwei Stimmen, kummervoll, jung und sehr verlassen, den Mut, ihm zu antworten: Oh ja, Harry, sagte die eine. Wir sind die Brüder Zaharia.
Ion und Alexandru, ergänzte sein Bruder. Wir sind bei einem Unfall bei den Arbeiten an der neuen Straße getötet worden. Ein Tankwagen ist umgekippt und ausgelaufen, als wir gerade Tee auf einem Gaskocher bereiteten. Wir sind verbrannt. Und wir waren beide erst seit Kurzem verheiratet. Wenn es doch nur eine Möglichkeit gäbe, unseren Frauen mitzuteilen, dass wir nichts gespürt haben, dass wir keine Schmerzen leiden mussten.
»Aber ihr müsst doch schrecklich gelitten haben!« Harry konnte sein Erstaunen nicht verbergen.
Stimmt, sagte einer der beiden Brüder, aber es wäre uns lieber, wenn sie glaubten, es sei nicht so gewesen. Andernfalls würden sie vielleicht den Rest ihres Lebens nachts wach liegen und sich unsere Todesschreie vorstellen, während wir verbrannt sind. Wenigstens das würden wir ihnen gerne ersparen.
Harry war gerührt, aber es gab nichts, was er für sie tun konnte. Wenigstens jetzt noch nicht. »Hört zu. Es kann sein, dass ich euch irgendwann helfen kann – nicht jetzt, aber irgendwann in der Zukunft. Bald, wie ich hoffe. Wenn es so weit ist, werde ich es euch wissen lassen. Aber im Augenblick kann ich
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