ENTSEELT
einen Showdown hinaus. Und im Augenblick hat Janos die Fäden in der Hand. Wir können nur hoffen, dass er sich bei seinen Manipulationen verschätzt und den gleichen Fehler macht, den auch Igor Vlady gemacht hat ... und dabei vor einen Zug läuft.«
Um 20:05 Uhr kam der Anruf, den Manolis von dem Piloten auf der Rhodos-Karpathos-Fluglinie erwartete: Jianni Lazarides’ Privatflugzeug, gesteuert von einem Mann in seinen Diensten, war um drei Uhr morgens mit unbekanntem Flugziel vom Flughafen auf Karpathos gestartet. An Bord waren Lazarides selbst und ein Mann und eine Frau, die der Beschreibung nach Ken Layard und Sandra sein mussten.
Harry hatte sich auf eine Nachricht dieser Art eingestellt, daher hielt sich der Schock in Grenzen, aber er war irritiert. »Was heißt das – unbekanntes Flugziel? Müsste das Flugzeug nicht eine Starterlaubnis haben? Muss er sich nicht abmelden, durch den Zoll gehen oder sonst etwas?«
Manolis schnaubte verächtlich. »Ich kann es nur immer wieder sagen: Wir sind hier in Griechenland. Und Karpathos ist eine kleine Insel. Der Flughafen besteht nur aus einer Baracke! Es gibt ihn erst seit ein oder zwei Jahren, und auch nur für das Tourismusgeschäft. Zoll? Pah! Da ist vielleicht jemand, der deinen Pass abstempelt, wenn du als Ausländer eintriffst, aber doch nicht, wenn du Grieche bist und von da weg willst. Und um drei Uhr morgens? Es ist schon ein Wunder, dass sich überhaupt jemand die Uhrzeit gemerkt hat.«
»Eine Sackgasse«, murmelte Darcy. »Er kann überall hin geflogen sein.«
Harry schüttelte den Kopf. »Nein, ich weiß, wo ich ihn finden kann. Ich befürchte nur, dass ich dahin, wohin er geflogen ist, nicht genauso einfach kommen werde. Aber darüber sprechen wir, wenn wir so weit sind. Zunächst mal muss ich mit Armstrong reden.«
Das verblüffte sowohl Manolis wie auch Darcy – für einen Augenblick. Darcy erholte sich als Erster wieder, denn er hatte den Necroscope schon bei der Arbeit gesehen. »Du willst, dass wir dich zu ihm bringen?«
»Ja, und zwar sofort. Ich glaube zwar nicht, dass die Zeit drängt – das war vielleicht vorher so, aber jetzt spielt es keine Rolle mehr. Die Räder haben sich in Bewegung gesetzt, und alles wird schließlich auf eine Konfrontation hinauslaufen, da bin ich mir sicher. Aber wenn ich jetzt nur rumsitze und Däumchen drehe ... ich glaube, dann werde ich wahnsinnig.«
Manolis hatte jetzt auch begriffen. »Heißt das, dass du mit einem toten Mann reden willst?«
Harry nickte. »Ja, wir müssen zu der Verbrennungsanlage. Da, wo ihr ihn hingebracht habt. Da wird er von jetzt an immer sein.«
»Und ... er wird mit dir reden?«
»Es macht den Toten nichts aus, mit mir zu reden«, sagte Harry. »Armstrong ist jetzt nicht mehr Janos’ willenloser Sklave. Vielleicht brennt er sogar darauf, sich an ihm zu rächen. Und später heute Nacht muss ich dann noch versuchen, jemand anderen zu erreichen.«
»Möbius?«, spekulierte Darcy.
»Genau den. Ein Vampir hat in meinem Verstand herumgepfuscht und mir die Fähigkeit genommen, mit den Toten zu reden. Ich habe einen anderen Vampir gebraucht, um das wieder in Ordnung zu bringen. Der, der diesen Schaden angerichtet hat, war nicht nur ein Vampir, sondern auch ein großer Mathematiker – mein Sohn, der dieses Talent von mir geerbt hat. Und während er in meinem Verstand gewesen ist, hat er bestimmte Türen vor mir verschlossen, so dass ich jetzt jedes Gefühl für Zahlen verloren habe. Wenn Faethor mir die eine Gabe zurückgeben konnte, kann Möbius vielleicht das Gleiche mit der anderen tun. Und wenn dem so ist, dann bekommt Janos doch noch richtige Probleme.«
Die Verbrennungsanlage war noch immer in Betrieb. Ein junger griechischer Arbeiter machte Überstunden und schaufelte Holzreste in die lodernde, rotgelb leuchtende Öffnung, während über ihnen schwarzer Qualm und ersterbende Funken durch den hohen Schornstein in den Himmel stiegen. Darcy und Manolis standen neben dem Ofen und beobachteten den Arbeiter bei seiner Arbeit. Harry saß auf einer Kiste in einiger Entfernung von ihnen. Seine eigentümlichen Augen starrten fast blicklos vor sich hin. Aber in seinem Verstand war alles klar und sein necroscopischer Instinkt versicherte ihm, dass Seth Armstrongs Geist hier war. Er konnte sogar seine kläglichen Schreie hören.
Armstrong , sagte Harry, ganz sanft. Du hast es überstanden. Du bist frei. Warum dieser Kummer?
Das Stöhnen und das Wimmern verstummte schlagartig: Harry Keogh?
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