ENTSEELT
er, »was wenigstens ein Schritt in die richtige Richtung ist.«
»Du bist ein eiskalter Hund«, sagte Manolis. »Das habe ich schon gedacht, als ich dich das erste Mal gesehen habe. Du redest vom Schritt in die richtige Richtung, und die ganze Zeit über ist Sandra, deine Freundin ...«
»Manolis«, unterbrach Harry ihn. »Kein Mensch hat mehr verloren als ich. Nein, ich versuche nicht, mich als Märtyrer hinzustellen, ich stelle nur eine Tatsache fest. Es hat begonnen, als ich noch ein Kind war, und es hat bis heute nicht aufgehört. Ich habe so ziemlich jeden Menschen verloren, den ich je geliebt habe. Ich habe sogar meinen Sohn verloren – in einer anderen Welt, an eine andere Lebensweise: an diesen verfluchten Vampirismus. Und je mehr man verliert, desto härter wird man. Das kannst du jeden Gewohnheitsspieler fragen. Die spielen nicht, um zu gewinnen, sondern um zu verlieren. Früher haben sie mal gespielt, um zu gewinnen, aber jetzt gehen sie sofort wieder an den Spieltisch zurück, wenn sie gewonnen haben.«
»Harry.« Darcy ergriff ihn am Arm. »Beruhige dich.«
Aber Harry schüttelte ihn ab. »Lass mich ausreden.« Er wandte sich wieder Manolis zu. »Auch ich habe gespielt, um zu gewinnen. Aber es ist ein verdammt schweres Spiel, wenn alle Karten gegen dich sind. Du willst, dass ich Sandra beweine? Vielleicht tue ich das – später. Du willst, dass ich zusammenbreche, damit man sieht, dass ich ein guter Junge bin? Aber was würde es nützen, wenn ich jetzt zusammenklappe? Ich habe Sandra geliebt, das glaube ich wenigstens. Aber es ist bereits zu spät, noch etwas zu ändern. Sie ist nur eine Sache mehr, die ich verloren habe. Das ist die einzige Art, wie ich die Angelegenheit betrachten und trotzdem weitermachen kann. Aber jetzt kann es sein, dass sich das Kartenglück wendet und ich wieder gewinne. Wir können vielleicht wieder gewinnen. Nicht Sandra, nein. Die ist tot. Und wenn sie noch lebt, dann ist es umso schlimmer für sie. Ich kenne diesen Janos Ferenczy mittlerweile einigermaßen, und ich weiß, wovon ich rede. Du nennst mich eiskalt, aber du weißt nicht, wie ich innerlich koche. Jetzt bitte ich dich noch um einen Gefallen: Hör auf, dir Gedanken über das zu machen, was du für die richtige Sichtweise hältst. Hör auf, dich um Sandra zu sorgen. Es ist zu spät. Dies ist ein Krieg, und sie ist eines der Opfer. Wir müssen jetzt zurückschlagen, solange wir noch die Möglichkeit dazu haben!«
Lange Zeit sagte Manolis gar nichts. Dann sprach er sehr sanft: »Mein Freund, du bist äußerst angespannt. Du trägst eine schwere Last auf deinen Schultern, und ich bin ein Dummkopf. Ich kann gar nicht versuchen zu ermessen, wie es für dich sein muss, oder auch nur, wie du denkst. Du bist kein normaler Mensch, und ich habe kein recht, so zu reden, wie ich es getan habe, oder die Dinge zu denken, die ich gedacht habe.«
Harry saß reglos da und blickte den Griechen an. Manolis sah zu, wie sich die ausdrucksstarken Augen des Necroscope langsam mit Wasser füllten. Bevor es überlaufen konnte, stand Harry auf und stieß seinen Stuhl weg. Schwankend ging er ins Badezimmer.
»Was mich am meisten wurmt«, sagte Harry einige Zeit später, »ist die Tatsache, dass er über uns lacht – über uns alle, die Menschheit – und vielleicht auch über mich im Besonderen. Das ist sein Vampir-Ego. Er nennt sich Lazarides, nach dem biblischen Lazarus, den Jesus von den Toten wiedererweckt hat. Für einen Christen ist allein das schon eine Blasphemie. Aber er geht noch weiter. Um den Stachel noch tiefer zu treiben und die Tatsache zusätzlich zu betonen, nennt er auch sein Boot so! Er stachelt uns geradezu an, ihn zu entlarven. Er brüllt uns entgegen: ›Hey, seht her, ich bin wieder da!‹ Er bricht das oberste Gebot der Vampire und sucht das Licht der Öffentlichkeit, und das auf verschiedene Arten. Und ich glaube, das tut er absichtlich.«
»Aber warum?«, wollte Darcy wissen.
»Weil er es sich leisten kann! Weil die Menschen nicht mehr an Vampire glauben. Nein, ich meine nicht uns, sondern die Leute im Allgemeinen. Heutzutage kann er es sich leisten, im Rampenlicht zu stehen, denn er braucht die Mehrheit der Menschen nicht zu fürchten. Und er tut es auch, weil er weiß, dass die Leute, die an Vampirismus glauben – und das sind diejenigen, an denen er das meiste Interesse hat, die für ihn gefährlichen Menschen, du, ich, das E-Dezernat und alle anderen auf unserer Seite –, gegen ihn vorgehen
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