ENTSEELT
wäre George in der Zwischenzeit schon kopfüber in die Schlucht gestürzt oder hätte sich an einem der vielen niedrigen Durchgänge in den baufälligen Mauern den Schädel eingeschlagen. Laverne war sich seiner Kraft sehr wohl bewusst, er wusste, er würde allein mit George fertig werden, wenn es darauf ankam; es war sinnlos, die anderen für nichts und wieder nichts zu wecken. Er würde sich selbst um die Sache kümmern. Das Einzige, was er nicht tun durfte, wenn George wirklich schlafwandelte, war, ihn plötzlich aufzuwecken.
Laverne nahm den gleichen Weg wie Vulpe, ging durch die gleiche Lücke in der Mauer und folgte ihm tiefer in die Schatten. Er gab sorgsam darauf Acht, wohin er in dem kniehohen Nebel seine Füße setzte. Das Innere der Ruine war gewaltig, das Schloss hatte eine Fläche von mehreren hundert Quadratmetern, wenn man die Wände mitrechnete, die eingestürzt oder durch die Explosion davongeschleudert worden waren. Als die Schläfer und der Schein des Lagerfeuers hinter ihm verblassten, schaltete er eine Taschenlampe ein und richtete den Strahl vor sich. Der Boden stieg hier ein wenig an, und Haufen von Trümmersteinen ragten aus dem Nebel hervor wie Inseln aus einer merkwürdig weißen See.
In dem Augenblick bevor er hinter einer umgestürzten Wand verschwand, blieb George Vulpe im Licht der Taschenlampe kurz stehen und drehte sich um. Seine Augen wirkten unnatürlich geweitet und reflektierten den Lichtstrahl. Die Augen von George ... und die von etwas anderem!
Sie blieben nur für einen Augenblick dort, dann waren sie verschwunden, wie ein Licht, das ausgeknipst worden ist.
Ein Augenpaar nahe am Boden, schmale, wilde Schlitze ... Wolfsaugen?
Laverne schwenkte die Lampe hin und her, leuchtete mit ihr in alle Richtungen, beugte sich vor und drehte sich einmal um die eigene Achse. Er sah nichts, nur nackte Wände, Geröllhaufen, leere Durchgänge und die tintenschwarze Finsternis dahinter. Und ein Stück hinter ihm das freundliche Glühen des Lagerfeuers wie ein Leuchtturm in der Nacht.
Es war eine kluge Entscheidung gewesen, diesen Ort nicht noch in der Dämmerung zu erkunden; er war einfach zu groß und zu sehr vom Einsturz bedroht. Vielleicht war es ein Fehler von Laverne gewesen, die anderen nicht zu wecken.
Aber ... ein Wolf? Oder hatte ihm seine Fantasie einen Streich gespielt? Wahrscheinlich eher ein Fuchs. Das hier war der ideale Ort für Füchse. Es wäre massenhaft Platz für Fuchsbauten in den Gewölben dieser Ruinen. Und hatte Gogosu nicht gesagt, dass die Einheimischen sich weigerten, die Füchse zu jagen, die hier oben hausten? Das hatte er also gesehen, einen Fuchs ...
... oder doch einen Wolf.
Laverne besaß ein Taschenmesser mit einer acht Zentimeter langen Klinge. Er zog es heraus, klappte es auf und balancierte es in der Hand. Es war dazu gedacht, um Briefe zu öffnen, Äpfel zu schälen oder zu schnitzen. Aber immer noch besser als nichts. Gott – warum hatte er die anderen nur nicht aufgeweckt? Aber dafür war es jetzt zu spät, und George entfernte sich immer weiter von ihm.
»George«, flüsterte er und folgte ihm. »George, zum Teufel. Wo bist du nur?«
Laverne erreichte die Ecke der bröckligen Wand, hinter der Vulpe verschwunden war. Dahinter lag ein großes, von silbrigem Mondlicht beschienenes Areal, das vielleicht einmal ein Saal gewesen war. Auf der gegenüberliegenden Seite, hinter einem Trümmerhaufen aus abgebröckeltem Putz und zerschmetterten Dachschindeln, zeichnete sich die Silhouette eines Mannes von der Taille aufwärts ab. Laverne erkannte die Gestalt als George Vulpe. Er beobachtete, wie die Silhouette einen Schritt voran ging und tiefer sank. Und alles auf diese langsame, roboterhafte Art. Nur der Kopf und die Schultern waren noch zu sehen. Dann noch ein Schritt, und der Kopf war nur noch ein kugelförmiger Klotz auf einem Haufen Steine; noch einer und Vulpe war verschwunden.
Wohin? Ein Loch oder eine trümmerbedeckte Treppe? Was glaubte dieser Idiot eigentlich, wo er hinwollte? Woher wusste er, wohin er gehen musste? »George!«, rief Laverne wieder hinter ihm her, diesmal ein wenig lauter, und folgte ihm weiter.
Hinter dem Trümmerhaufen war ein Teil des Schutts weggeräumt und die Steinplatten des Fußbodens freigelegt worden. Und dort gähnte ein schwarzes Loch und führte in das Innere der Festung. Am einen Ende dieses Lochs war eine längliche, flache Steinplatte mithilfe eines eisernen Rings angehoben worden und stand jetzt senkrecht
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