Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
ENTSEELT

ENTSEELT

Titel: ENTSEELT Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Brian Lumley
Vom Netzwerk:
den Hintergrund gedrängt und schließlich vergessen.«
    »Und Sie glauben, das hat etwas mit dem Traum zu tun, den Sie jetzt hatten? Inwiefern?«
    Harrys Achselzucken war jetzt entspannter, nicht mehr so fatalistisch. »Sie haben doch bestimmt davon gehört, dass jemand, der plötzlich blind wird, so etwas wie einen sechsten Sinn entwickelt? Und dass Leute, die von Geburt an behindert sind, offenbar Wege finden, ihre Behinderung auf andere Art auszugleichen?«
    »Ja, sicher«, erklärte der Arzt. »Einige der größten Musiker der Welt waren taub oder blind. Aber was soll ...?«
    Und dann schnalzte er mit den Fingern. »Ich verstehe! Sie glauben also, der Verlust Ihrer anderen Fähigkeiten hat dieses ... dieses verkümmerte Talent wieder zum Vorschein gebracht, meinen Sie das?«
    »Vielleicht. Aber jetzt sehe ich nicht mehr Dinge aus der Vergangenheit, sondern aus der Zukunft. Meiner Zukunft. Wenn auch nur vage, ungeformt, in Gestalt von Albträumen.«
    Nun blickte Bettley besorgt. »Glauben Sie, Sie entwickeln jetzt hellseherische Fähigkeiten? Aber was hat das mit Vampiren zu tun, Harry?«
    »Mein Traum. Da ist etwas, das ich vergessen hatte, oder an das ich mich nicht erinnern wollte, bis Sie das jetzt wieder angestoßen haben. Aber nun kann ich mich wieder deutlich daran erinnern. Ich kann es ganz deutlich sehen.«
    »Reden Sie weiter!«
    »Es ist nur eine Kleinigkeit«, sagte Harry ein wenig ausweichend.
    »Aber es ist besser, man redet offen darüber, oder?« Bettleys Stimme war ganz ruhig und ermunterte Harry fortzufahren, ohne ihn zu sehr zu drängen.
    »Vielleicht.« Und dann plötzlich drang es aus Harry heraus: »Ich habe rote Fäden gesehen! Die blutroten Lebensfäden von Vampiren!«
    »In Ihrem Traum?« Auf Bettleys Rücken und seinen Oberarmen bildete sich eine Gänsehaut. »Wo in dem Traum?«
    »In den grünen Streifen, als das Licht durch die Jalousien drang. Die Streifen auf ihrem Bauch und ihren Schenkeln in dem Moment, bevor sich dieses höllische Ding in mich verbiss. Sie waren grün gefärbt wie bei einer Unterwasseraufnahme, aber als mein Blut zu fließen begann, färbten sie sich rot. Rote Fäden, die von ihrem Körper in die ferne Vergangenheit verliefen. Und in die Zukunft. Zuckende rote Fäden, die sich unter die blauen Lebensfäden der Menschheit gemischt hatten. Vampire!«
    Der Arzt sagte nichts. Er wartete und spürte dabei, wie die Furcht und die Faszination aus seinem Gegenüber herausbrach und in das Arbeitszimmer wogte wie eine kranke, fast greifbare Woge. Bis Harry den Kopf schüttelte und die Spannung brach. Dann stand er plötzlich auf und ging auf unsicheren Beinen auf die Tür zu.
    »Harry?«, rief Bettley hinter ihm her.
    An der Tür drehte Harry sich um. »Ich verschwende Ihre Zeit«, sagte er. »Wie üblich. Seien wir doch ehrlich: Sie haben vielleicht recht, und ich fürchte mich vor meinem eigenen Schatten. Reines Selbstmitleid, weil ich nichts Besonderes mehr bin. Und vielleicht habe ich auch Angst, weil ich weiß, was da draußen auf mich warten könnte, es wahrscheinlich aber nicht tut. Zum Teufel, was kommen wird, wird kommen, das wissen wir doch. Und die Zeit, als ich noch etwas dagegen tun oder es in irgendeiner Weise hätte ändern können, ist längst vorüber.«
    Bettley widersprach mit einem Kopfschütteln. »Es war keine Verschwendung, Harry. Nicht, wenn wir etwas dabei erfahren haben. Und mir scheint, wir haben sehr viel erfahren.«
    Harry nickte. »Jedenfalls vielen Dank.« Er schloss die Tür hinter sich.
    Der Arzt stand auf und ging zum Fenster hinüber. Nach kurzer Zeit verließ Harry unter ihm das Gebäude und trat auf die Princes Street im Zentrum Edinburghs hinaus. Er klappte den Jackenkragen hoch, um sich gegen den Nieselregen zu schützen, zog den Kopf ein und drehte dem Wind den Rücken zu. Dann trat er an den Bordstein und winkte einem Taxi. Einen Moment später war der Wagen mit ihm um eine Kurve verschwunden.
    Bettley ging zurück zu seinem Tisch, setzte sich und seufzte. Jetzt war er derjenige, der sich schwach fühlte; aber Keoghs psychische Emanation – das beinahe fühlbare »Echo« seiner Anwesenheit – schwand bereits. Als es ganz verklungen war, spulte der Empath das Band zurück und wählte eine bestimmte Nummer des INTESP-Hauptquartiers in London. Er wartete, bis er ein Signal erhielt, dann legte er den Hörer auf eine in dem Recorder unter seinem Tisch eingebaute Gabel. Ein Druck auf einen Knopf und Harrys Sitzung wurde in das Archiv des

Weitere Kostenlose Bücher