ENTSEELT
E-Dezernats überspielt.
So wie alle seine anderen Sitzungen.
Auf dem Weg nach Bonnyrigg lehnte sich Harry auf dem Rücksitz des Taxis zurück und schloss die Augen. Er ließ den Kopf in das weiche Leder sinken und versuchte, sich an den anderen Traum zu erinnern, der ihn in den letzten drei oder vier Jahren immer wieder gequält hatte, den mit Harry junior. Er wusste, worum es in dem Traum ging – was ihm angetan worden war, wie und warum – aber die Einzelheiten entzogen sich ihm. Das Was und Wie waren offensichtlich: Mithilfe der Wamphyri-Kunst der Hypnose hatte Harry junior aus seinem Vater einen Ex-Necroscopen gemacht und ihm zur gleichen Zeit die Fähigkeit genommen, das Möbius-Kontinuum zu betreten und in ihm zu reisen. Und das Warum?
Du würdest mich vernichten, wenn du das könntest . Er hörte wieder die Stimme seines Sohnes, wie eine Schallplatte, die er Hunderte und Aberhunderte von Malen abgespielt hatte, bis er jedes Wort und jede Formulierung, jede Stimmung und Nuance darin auswendig kannte. Du brauchst es nicht zu leugnen, ich kann es in deinen Augen sehen, ich kann es in deinem Atem riechen, in deinen Gedanken lesen. Ich kenne deinen Verstand sehr gut, Vater. Fast so gut wie du selbst. Ich habe jeden Teil davon erforscht, erinnerst du dich?
Und jetzt antwortete Harry tonlos mit genau den gleichen Worten, die er damals gesprochen hatte: »Aber wenn du so viel weißt, dann weißt du auch, dass ich dir nie einen Schaden zufügen würde. Ich will dich nicht zerstören, ich will dich nur heilen.«
So wie du Lady Karen »geheilt« hast? Und wo ist sie jetzt, Vater? Es war keine Anschuldigung, in der Stimme lag kein Sarkasmus, keine Bitterkeit. Es war nur die Feststellung einer Tatsache. Lady Karen hatte sich umgebracht, wie Harry junior sehr wohl wusste.
»Das Ding hatte zu sehr Besitz von ihr ergriffen. Und ihr fehlte das Wissen, um damit umgehen zu können. Sie war nur ein Travellermädchen. Sie hatte nicht dein Verständnis. Sie konnte nicht sehen, was sie gewonnen hatte; sie sah nur, was sie verloren hatte. Sie hätte sich nicht umbringen müssen. Vielleicht war sie ... vielleicht hatte sie den Verstand verloren?«
Du weißt, dass es nicht so war. Sie war einfach nur eine Wamphyri. Und du hast den Vampir aus ihr ausgetrieben und getötet. Du dachtest, es sei das Gleiche, als würde man einen Bandwurm töten, als brenne man eine schwärende Wunde aus oder schneide eine Krebsgeschwulst heraus. Aber so war es nicht. Du sagst, sie habe nicht gesehen, was sie gewonnen hat. Dann erkläre mir doch einmal, was Lady Karen deiner Meinung nach gewonnen hat?
»Ihre Freiheit!«, hatte Harry verzweifelt aufgeschrien. Plötzlich ekelte er sich vor sich selbst. »Um Himmels willen, erkläre mir nicht, dass ich mich geirrt habe! Ich bin kein verdammter Mörder!«
Nein, das bist du nicht. Aber du bist ein Mann mit einer Obsession. Und ich habe Angst vor dir. Oder zumindest vor deinen Zielen, deinen Bestrebungen. Du willst deine Welt vom Vampirismus befreien. Das ist ein lobenswertes Ziel. Aber wenn du das erreicht hast ... was kommt dann? Wird meine Welt die nächste ein? Das ist eine Obsession, die in dir wächst, so wie der Vampir in mir wächst. Ich bin Wamphyri, Vater, und es gibt nichts, das so starrsinnig ist wie ein Vampir – außer vielleicht Harry Keogh selbst.
Siehst du nicht, was für eine Gefahr du für mich darstellst? Du kennst viele der geheimen Künste der Wamphyri, und du weißt, wie man sie vernichten kann; du kannst mit den Toten reden, du kannst dich im Möbius-Kontinuum bewegen – sogar in der Zeit, wenn auch nur eingeschränkt. Ich bin einmal vor dir, vor deiner Welt, davongelaufen. Aber jetzt, in dieser Welt, habe ich für meine Heimstatt gekämpft und sie mir verdient. Dieser Ort gehört mir, und ich werde ihn nicht wieder aufgeben. Ich renne nicht mehr davon. Aber ich kann es nicht riskieren, dass du irgendwann Jagd auf mich machst, ich kann nicht darauf vertrauen, dass du dich mit dem Status Quo zufrieden gibst. Ich bin ein Wamphyri! Du wirst deine Experimente nicht mit mir machen. Ich bin kein Versuchskaninchen für irgendwelche »Heilungen«, die du dir noch ausdenken könntest.
»Und was ist mit mir?« Damals war das ein Aufbegehren gewesen, jetzt flüsterte Harry die Worte nur vor sich hin. »Wie sicher werde ich sein? Ich bin für dich eine Gefahr, das hast du ja zugegeben. Wie lange wird es dauern, bis der Vampir die Oberhand gewinnt und du dich auf die Suche nach mir
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