Entsorgt: Thriller (German Edition)
nicht verärgert. Bloß traurig. Geschlagen. Sie ging an ihm vorbei und zurück in die Küche, ohne ihn dabei anzusehen. Auf der Anrichte standen zwei leere Teetassen, vom Wasserkocher stieg Dampf auf. Sie griff nach der Klinke der Hintertür und zögerte, kehrte zu ihm in den Hausflur zurück.
»Ich möchte Model werden.«
Sein Kopf wurde mit Erwiderungen geflutet:
Dummes, naives Ding. Du hast doch keine Ahnung, was du dir damit einbrocken würdest. Beim Fotografieren wird es nicht bleiben, und wenn du noch so hehre Prinzipien hast. Du könntest es schaffen, den Körper und die Ausstrahlung hast du. Und dieses unschuldige, noch unbeschriebene Gesicht. Ganz egal, ob du es schaffst oder nicht, am Ende wird es dir wie mir ergehen. Dieser Lebensstil wird dich auslutschen wie eine Zitrone.
Nichts von alledem kam über seine Lippen. Stattdessen gab er ein leises Schnauben von sich. Für sie mochte es wie ein Lachen geklungen haben, doch das war es nicht.
»Warum geht jeder davon aus, dass man versagt, bevor man überhaupt angefangen hat? Ich bin nicht blöd, falls es das ist, was Sie denken. Ich werde mich nicht über den Tisch ziehen lassen.«
»Ach ja?« Diesmal lachte er. »Und wie willst du das verhindern?«
»Ich besitze eine gute Menschenkenntnis.«
»Wenn dem so wäre, dann stündest du jetzt wohl kaum hier.«
»Ich weiß, dass ich Ihnen vertrauen kann, Mr. Brand. Sie sind ein Einsiedler, aber Sie sind in Ordnung.«
»So, bin ich das? Woher willst du das wissen?«
Sie zuckte mit den Achseln.
»Jetzt hör mir mal zu«, sagte er. »Du bist viel zu jung und viel zu unerfahren, um zu wissen, wem du trauen kannst und wem nicht. Wissen deine Eltern eigentlich, was du vorhast?«
»Das geht die gar nichts an.«
»Nenn mir einen einzigen Grund, warum ich ihnen nicht davon erzählen sollte. Glaubst du etwa, sie würden dir das durchgehen lassen?«
»Tun Sie das nicht.«
»Dann lass den Blödsinn .«
»Das ist so ein Mist , den Sie da erzählen.«
Sie weinte. Das kleine Mädchen hatte seine Maske verloren. So plötzlich, wie sie ihre Fassung verloren hatte, riss sie sich auch wieder zusammen und wischte sich die Tränen aus dem Gesicht.
»Mr. Brand«, sagte sie, »ich bin zu Ihnen gekommen, weil ich Ihre Hilfe brauche. Ich setze mein ganzes Vertrauen in Sie, also bitte verarschen Sie mich jetzt nicht.«
Mason zuckte mit den Schultern. Er verstand nicht, worauf sie hinauswollte.
»Ich möchte, dass Sie mich fotografieren. Ich weiß, wer Sie sind. Wenn Ihr Name unter meinen Fotos steht, muss ich mich, wenn ich nach London komme, nicht mit den Halsabschneidern der Branche herumschlagen.«
Mason wies mit der Hand Richtung Tür und bedeutete ihr, diese zu öffnen.
»Du wirst auf der Stelle gehen. Jetzt sofort.«
Der Farmer war nicht so krank, wie er aussah.
Er kam Mason häufig besuchen. Manchmal stützte er sich auf einen langen, krummen Stab, wenn er den steilen, heimtückischen Pfad herabstieg. Mason konnte ihn kommen hören, lange bevor er ihn sah. Das sieche Keuchen, das Stochern und Klopfen seines im Geröll nach Halt suchenden Stabes, die ungleichmäßigen Schritte eines zwar lahmenden, aber überaus entschlossenen Mannes. Über den rutschigen Felsboden, die moosigen Steine und durch die – selbst dann, wenn es nicht regnete – feucht über dem Tal hängende Luft stahl er sich heran. Er kam durch Wälder. Mal wurden sie von Wind und Wetter gepeitscht, mal stellten sie sich reglos dem Licht über ihnen entgegen. Mit schmerzenden Beinen trotzte er humpelnd dem Zugriff der Kletten und Ranken des Sommers sowie dem der gefühllosen Hände des Winters. Für ihn war die Welt eine Pforte. Er brauchte kein Eintrittsgeld zu zahlen und zeigte keine Angst davor, sie zu verlassen. Bärtig, zerlumpt und starr vor sich hin stierend, marschierte er, als wäre er bereits eine Seele, die sich von ihrem beschissenen menschlichen Anker gelöst hatte: ein Lebender mit dem Wissen eines Toten. Er setzte sich still an Masons Seite und betrachtete mit ihm die Welt, führte dessen Auge und lehrte ihn, was er sah und wie er es sah.
Zu anderen Gelegenheiten besuchte er Mason in dessen Träumen: Schleppend, kollernd, sich immerzu quälend, kündete allein die Tatsache, dass er sich ihm der eigenen Hinfälligkeit zum Trotz immer weiter – schleppend! – und weiter – kollernd! – und weiter – sich quälend! – näherte, von seiner Macht. Mag sein, dass dieser Mann bloß noch ein Schatten seiner selbst war.
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