ENTWEIHT
bärtiger, hinkender, »älterer« Mann mit breitkrempigem Hut und schäbigem, langem Regenmantel war er nicht wiederzuerkennen. Lediglich seine Augen waren so wie immer: kalt, durchdringend und ebenso mitleidlos wie sein Hass. Darum hielt er sie unter der Krempe seines Schlapphutes hinter den getönten Gläsern einer Blindenbrille verborgen.
Selbst wenn er Francesco »Frankie« Reggio aufgefallen sein sollte (was wahrscheinlich war, da es ihn während der umständlichen Zugfahrt entlang der Mittelmeerküste von Marseille nach Savona und anschließend ins Landesinnere nach Turin mehrmals unwiderstehlich mordlüstern zu ihm hingezogen hatte), hätte dieser in ihm doch niemals den Mann wiedererkannt, den er gemeinsam mit Castellanos übrigen Schlägern mit Drogen vollgepumpt und dann in der Provence am Fuß der Alpen in einen Hochwasser führenden Fluss geworfen hatte.
Umgekehrt hingegen hatte Jake nicht vor, Frankie je zu vergessen. Zumindest nicht, solange noch etwas von ihm übrig war ...
Vier Stunden zuvor hatte Frankie Reggio am Turiner Hauptbahnhof ein Taxi genommen und in seinem Hotel eingecheckt. Das Hotel Novara war ein altes, aber anständiges Drei-Sterne-Haus, ein gutes Stück anspruchsvoller als die billige Pension, in der Jake nur abgestiegen war, weil sie direkt gegenüber dem Novara lag, auf der anderen Seite einer verkehrsreichen Straße knapp einen Kilometer vom Stadtzentrum entfernt. Dass die Pension etwas heruntergekommen war, störte ihn nicht besonders, vorrangig war für Jake die Nähe zu seinem Ziel. Ein paar Küchenschaben in den Schränken machten ihm da nichts aus. Außerdem hatte er ohnehin nicht vor, länger dort zu bleiben.
Jake hatte es eilig gehabt. Er wollte ein Zimmer haben, noch ehe Frankie das seine bezog. Darum hatte er das erstbeste genommen, das sie ihm im zweiten Stock gezeigt hatten. Sobald er allein war, hatte er seinen Koffer geöffnet und ihm die Aktentasche entnommen, in der die Einzelteile seines langläufigen 7.62-Scharfschützengewehrs verstaut waren. Der Zusammenbau konnte warten, vorerst interessierte ihn lediglich das Zielfernrohr.
Und er hatte Glück – aber nicht nur. Denn Jake hatte Frankie schon mehrmals bei Aufträgen, die dieser Sadist für Castellano zu erledigen hatte, beschattet. Bei diesen Gelegenheiten war er auf Distanz geblieben und hatte lediglich beobachtet und Informationen gesammelt. Er wusste, dass Frankie für gewöhnlich ein Zimmer im zweiten Stock nahm, das zur Straße hin lag. So auch in jener Nacht. Als auf der gegenüberliegenden Straßenseite in einem Zimmer im zweiten Obergeschoss das Licht anging, war ihm klar, dass es sich nur um Frankie Reggio handeln konnte.
Daraufhin löschte Jake sein Licht. Er saß im Dunkeln und beobachtete den Kerl durch einen Spalt in den trostlosen Vorhängen. Zwar war Jakes Blick – und auch sein Hass – unentwegt auf Frankie gerichtet, doch vergaß er dabei nicht, weshalb er hergekommen war. Grenzenloser Hass hatte ihn hierhergeführt, ja, ganz recht, aber sein Ziel war Rache, und dazu musste jede Kleinigkeit stimmen.
Auge um Auge.
Nataschas Augenlicht war für immer erloschen – nicht im wörtlichen Sinn, das nicht, aber das Leben war aus ihren Augen gewichen ...
Die zur Straße hin gelegenen Zimmer des Hotels Novara verfügten über je einen Balkon mit Geländer und waren durch große Glastüren zu erreichen. Der Abstand von Balkon zu Balkon betrug etwas über ein Meter zwanzig, was für den Plan, den Jake sich ersonnen hatte, bedeutsam war. Die ganze Zeit über hatte er gewusst, was er wollte, lediglich das Wie war stets das Problem gewesen. Nun ergab es sich beinahe von selbst.
Und was die Zimmer des Novara anging:
Als Jake das Fadenkreuz über Frankies Zimmer schweifen ließ, hatte er alles gesehen, was er sehen musste. Doch dann blickte der Schläger ein, zwei Sekunden auf die Straße hinaus und zog anschließend die Vorhänge zu, um die Nacht und damit auch Jake auszuschließen. Aber das war in Ordnung so; Jake hatte genug mitbekommen und war zufrieden. Was er gesehen hatte, kam ihm sehr gelegen. Überdies konnte er noch immer die Stelle ausmachen, an welcher der wesentlichste Beleuchtungseffekt des Zimmers seinen Schein durch die Vorhänge warf – ein Paar typisch italienischer Kugelleuchten aus der Spätzeit des Art Nouveau in Form großer, aus einem Büschel vergoldeter Messingblätter sprießender Lotosblüten, die dem riesigen Bett gegenüber, direkt über einem kleinen Schreibtisch mit
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