Entzweit : Vereint (ambi : polar) (German Edition)
musste so um die vierzig herum sein, aber außer seinem Zeichentalent war ihm nichts geblieben und er schlug sich jetzt mit Gelegenheitsjobs mehr schlecht als recht durchs Leben.
Angesichts dieser tragischen Geschichte schämte ich mich für meine eigenen Probleme. Ich war zwar auch nicht gerade reich, aber ich bekam eine kleine Studienförderung vom Staat und hatte eine Familie, die mich notfalls auffangen würde. Ich durfte studieren, was ich wollte, und frei über mein Leben bestimmen. Im Gegensatz zu Karim, wie der Künstler hieß, lebte ich in einer Wohlfühlblase. Mal abgesehen von meinem kleinen Problemchen mit meinen seltsamen Empfindungen war mein Leben im Vergleich zu Karims gesehen einfach.
Weil ich irgendwie ein schlechtes Gewissen ihm gegenüber empfand, was zwar surreal, aber nun mal da war, und ich mich unerklärlicherweise zu ihm hingezogen fühlte, lud ich ihn aus einem spontanen Impuls heraus zum Essen in eine kleine Imbissbude auf dem Platz ein. In der Kälte wurde es langsam ungemütlich und ich hatte Hunger. Auch Karim sah ziemlich abgemagert aus und trug außerdem nicht gerade einen dicken Mantel. Er wollte mein Angebot nicht annehmen und beäugte mich auch ein wenig misstrauisch, doch ich bestand darauf und meinte, er könnte mich ja im Gegenzug dafür zeichnen. Nach langem Zögern willigte er schließlich ein und obwohl ich mich kurz fragte, was ich da eigentlich machte und ob ich plötzlich verrückt geworden war, einen wildfremden Mann zum Essen einzuladen, so schien meine innere Stimme mich dennoch dazu zu ermuntern, also lotste ich Karim zu dem kleinen Imbissladen , der einen überraschend bequemen und vor allem Warmen Sitzbereich aufweisen konnte.
Wir bestellten reichlich zu essen und Karim entspannte sich langsam. Ich bat ihn, von seiner Heimat zu erzählen und seine Lebensgeister blühten auf, als er mir sein ehemaliges zu Hause beschrieb. Ich konnte mir nicht erklären warum, aber es gab mir ein unglaublich gutes Gefühl mit Karim zusammen zu sitzen. Während unseres Gesprächs entspannte auch ich mich und obwohl ich mir sicher war, dass wir in dem Lokal ein seltsames Pärchen abgaben, scherten wir uns beide nicht darum und ich erzählte ihm schließlich auch ein wenig von meiner Heimat und von meinem Leben.
Als ich ihm die absonderlichen Eigenheiten der bretonischen Dorfbewohner schilderte, musste er sogar herzhaft lachen und ich stellte mit Erstaunen fest, dass ich mich seit meiner ganzen Ankunft hier in Paris noch nie so wohl gefühlt hatte wie in diesem Moment. Aus irgendeinem Grund zog es mich zu Karim hin. Vielleicht weil er ebenso ein Heimatloser war wie ich und sich mindestens genauso fremd und verloren in Paris fühlte wie ich. Schicksal verbindet, sagt man.
Wir verließen den Imbiss erst, als der Besitzer zusperren wollte, und da es zu spät und vor allem zu dunkel für das Erstellen eines Portraits von mir war, versprach ich Karim, demnächst wieder vorbei zu kommen.
Der Blick auf die Uhr sagte mir, dass Marianne wahrscheinlich noch nicht zu Hause war, doch ich hatte keine Lust mehr, mich zu verstecken. Ich fuhr schnurstracks nach Hause und stellte mit Erleichterung fest, dass die Wohnung verlassen war. Ich schloss mich wieder in mein Zimmer ein, legte allerdings vor meiner Tür, wie zufällig ausgezogen, meine Schuhe ab. Sozusagen als Zeichen, dass Marianne wusste, dass ich da war.
Ich war noch nicht müde, als ich mich auf meine Matratze legte. Obwohl ich den ganzen Tag unterwegs gewesen war, fühlte ich mich hellwach. Karims Geschichte hatte mich irgendwie berührt und auch gestärkt. Gestärkt in dem Sinne, dass der Mensch so Einiges überwinden konnte, wenn er wollte. Denn obwohl Karims Geschichte traurig war, so hatte er dennoch nie den Mut verloren, für seine Freiheit zu kämpfen. Und er wollte eines Tages sogar zurück in seine Heimat.
Einen Impuls, den ich nicht verstehen konnte, denn mich persönlich zog nichts mehr in die Heimat, in der ich geboren war. Überhaupt nichts. Es war, als hätte ich nie dorthin gehört. Nur, wo gehörte ich dann hin? Hier nach Paris anscheinend auch nicht, denn ich konnte nicht behaupten, dass ich mich hier sonderlich wohl fühlte. Vielleicht wäre ein Flüchten in die Fremde ja auch eine Alternative für mich?
Ein Geräusch an der Wohnungstür ließ mich aufhorchen. Marianne kam zurück. Ich hielt unwillkürlich den Atem an und forschte zugleich in meinem Inneren nach dem gewohnten Gefühl des Beobachtetwerdens, doch da war
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