Envy-[Neid]
und sie von Entscheidungen zu überzeugen, die sie fälschlicherweise für ihre eigenen hielten und nach denen sie dann auch handelten. Das hatte er schon früher getan. Erst kürzlich mit Howard Bancroft. Allerdings hatte er diese spezielle Begabung schon zu einer Zeit vervollkommnet, als er von Howard Bancroft noch nie gehört hatte.
Sein Telefon klingelte. Noch ehe er etwas sagen konnte, entschuldigte sich Cindy für die Störung.
»Entschuldigung, Mr. Reed, aber Ms. Schuller hat bereits fünfmal angerufen und besteht darauf, durchgestellt zu werden.«
»Schön.« Noah drückte den blinkenden Knopf. »Hallo, Nadia«, tönte er frisch-fröhlich. »Meines Wissens hattest du einen ziemlich aufregenden Lunch.«
Kapitel 2 0
Key West Florida, 1986
Todd Graysons erster Eindruck von Key West war eine einzige niederschmetternde Enttäuschung.
Seit Monaten kannte er fast nur noch ein Gesprächsthema: den Umzug. Er hatte kaum mehr an etwas anderes gedacht, und wie ein Kind, das die Tage bis Weihnachten zählt, jeden Kalendertag ungeduldig durchgestrichen. Alles, was sich seinen Tagträumen und Plänen in den Weg stellte, war ihm zuwider gewesen, einschließlich der Paukerei für sein Abschlusssemester. Herz, Hirn und Seele hatten nur ein Ziel: die Annäherung an sein Mekka in Florida.
Jetzt war er da, jetzt hatte sich ein lang gehegter Traum erfüllt. Und nun versetzte ihn der erste Anblick nicht gerade in tiefe spirituelle Verzückung.
Er verglich den Ort mit einer alten Hure. Abgenutzt sah er aus, zwielichtig, ein wenig ungesund und ziemlich müde. Wenn er diese Metapher wie beim Schreiben im Kopf weiterspann, dann erinnerte ihn Key West mehr an eine ganz gewöhnliche Nutte, die ihre Ware an einer Straßenecke feilbot, als an eine exotische Kurtisane, die mit geflüsterten Versprechungen lockte. Nach Abzug aller billigen und ziemlich pathetischen Versuche, glamourös zu wirken, hatte die Stadt wenig zu bieten und nichts, was für sie sprach. Billig war sie und gewöhnlich, und ein ausschweifendes Leben das Einzige, was sie hinter vorgehaltener Hand versprach.
Eigentlich hatte er mit Roark schon am Nachmittag nach der College-Abschlussfeier nach Florida abreisen wollen. Alles war bereits fertig gepackt. Bevor sie sich auf den Weg machten, hatten sie nur noch eine einzige Verpflichtung: ihre Hüte und Talare zurückzugeben, mit denen sie unter Pauken und Trompeten zur Zeugnisverleihung einmarschiert waren.
Sie hatten in ihren jeweiligen Autos im Konvoi fahren wollen und vereinbart, dass sie kurz vor der Ankunft anhalten und eine Münze werfen würden, um festzulegen, wer von beiden als Erster in die Duval Street einfuhr.
Aber das Schicksal meinte es anders und durchkreuzte ihre wohldurchdachten Pläne. Eine familiäre Verpflichtung hinderte Todd, am gleichen Tag abzureisen. Roark erbot sich, auch seine Abreise zu verschieben. Nach einer überstürzten Beratung kamen sie allerdings überein, er solle vorausfahren und sich schon mal nach einem Quartier umschauen.
»Ich werde Kundschafter spielen. Bis du kommst, habe ich bereits die Zelte aufgeschlagen«, hatte Roark gesagt, als sie einander niedergeschlagen Auf Wiedersehen sagten. Roarks Toyota war bis unters Dach bepackt. Jeder Quadratzentimeter Innenraum diente dazu, seine gesamte irdische Habe vom Verbindungshaus, wo er die letzten drei Jahre gelebt hatte, zu seinem nächsten Lebensabschnitt zu transportieren.
»Das haut rein«, stieß Todd hervor.
»Mächtig. Aber, he, ist doch nur ein unbedeutender Rückschlag.«
»Das sagst du so leicht. Dich haut’s ja nicht zurück. Während ich apathisch vor mich hin schmachte, schreibst du dir da unten die Nägel ab.«
»Wohl kaum, Mann. Ich werde genug um die Ohren haben. Ich muss alles abklappern und für uns ’ne Bude finden. Muss das Telefon anmelden. Solches Mistzeug. Da werde ich kaum ernsthaft zum Schreiben kommen.«
Das entsprach nicht der Wahrheit. Und Todd wusste das. Roark schrieb immer, ob betrunken oder nüchtern, müde oder aufgedreht, krank oder gesund. Er schrieb, wenn er glücklich war, und wenn er traurig war. Wenn er gute Laune hatte, schrieb er genauso viel, wie wenn ihm eine Laus über die Leber gelaufen war. Er schrieb, so lange es ihm leicht aus der Feder floss, aber auch wenn ihm keine Formulierungen einfallen wollten. Egal, was war, er schrieb. Man konnte es drehen, wie man wollte: Dies gab ihm einen Vorsprung, trotz aller gegenteiligen Behauptungen. Und das konnte Todd auf den Tod nicht
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