Envy-[Neid]
raschen zornigen Bewegungen sammelte sie weiter die Blätter ein. Dann bemerkte sie die Narbe.
Er trug keine Socken. Seine nackten Füße steckten in Segelschuhen, die traurig neu und ungetragen wirkten. Die erhabene unregelmäßige Narbe zog sich quer über den Rist seines rechten Fußes bis zum Knöchel, wo sie unter seinem Hosenbein verschwand.
»Von da an wird’s nur schlimmer. Im Vergleich zu einigen anderen sieht diese fast schön aus.«
Sie schaute zu ihm auf. »Es tut mir Leid, Parker.«
»Es muss dir nicht Leid tun. Die Neugierde auf etwas derart Groteskes liegt in der Natur des Menschen. Ich bin daran gewöhnt, angestarrt zu werden.«
»Nein. Ich wollte sagen, dein Unfall tut mir Leid. Es muss ungeheuer schmerzhaft gewesen sein.«
»Anfangs.« Seine Gleichgültigkeit war nur gespielt, das wusste sie. »Aber nach ein paar Jahren habe ich gelernt, damit zu leben. Allmählich hat sich der bohrende Schmerz in ein vertrautes Unwohlsein verwandelt. Nur nicht bei kaltem Wetter. Dann kann’s höllisch weh tun.«
»Bist du deshalb nach St. Anne gezogen? Um den harten Wintern zu entkommen?«
»Das war ein Grund dafür.« Er drehte seinen Stuhl um.
»Ich hole Nachschub. Willst du auch noch Pfirsiche?«
Da sie inzwischen alle Blätter in der Hand hielt, stand sie auf. »Nein, danke, ich muss ins Bett. Ich wollte mich von Mike früh wecken lassen.«
»Richtig.«
Binnen Sekunden strahlte er eine frostige Atmosphäre aus. Sie hatte seine Narben gesehen, die inneren und die an seinen Beinen, und das konnte er nicht ertragen. Diese Narben waren für ihn gleichbedeutend mit Schwäche, mit eingeschränkter Männlichkeit. Wie lächerlich.
Bis auf seine vernarbten Beine war Parker der Inbegriff von Männlichkeit, mit breiten Schultern und kräftigem Oberkörper. Schon am ersten Abend waren ihr seine muskulösen Arme aufgefallen. Sogar seine Beine waren muskulös, so weit sie das unter der Hose erkennen konnte. Bei einem Gespräch unter vier Augen hatte sie Mike gefragt, warum Parker keinen motorisierten Rollstuhl benutzt. Er hatte geantwortet, Parker wolle möglichst fit bleiben. Das eigenhändige Herumrollen helfe ihm beim Muskeltraining.
Er war kein klassisch schöner Mann wie Noah. Parkers Gesichtszüge wiesen deutliche Asymmetrien auf, doch gerade diese Unregelmäßigkeiten verliehen ihm ein faszinierend-interessantes Gesicht. Das kantige Kinn, die ausdrucksvolle Miene und ein kaum zu bändigender Haarschopf – das alles unterstrich eine attraktive Ausstrahlung, die man nur als männlich bezeichnen konnte.
Eine Männlichkeit, zu der es für eine verheiratete Frau nur einen Sicherheitsabstand gab: vollständige Distanz.
»Parker, ich werde mich bald melden.«
»Hab nicht vor, irgendwo hinzugehen«, meinte er schnoddrig.
»Schreib dir die Seele aus dem Leib.«
»Jaja. Auf Wiedersehen, Maris.« Ohne einen Blick zurück rollte er in die Küche. Genauso gut hätte er von ihr wegsprinten können. Hinter ihm pendelte die Türe zu.
Maris blieb allein im leeren dämmrigen Zimmer zurück. Sie fühlte sich fehl am Platze und ein wenig gedämpft. Was hatte sie erwartet? Sie wusste es nicht. Jedenfalls wirkte Parkers Rückzug enttäuschend. Sie hatte ihr Ziel erreicht: einen Vertrag, dass Neid fertig geschrieben wurde. Allerdings hätte ihn ein weiterer Handschlag zum endgültigen Besiegeln doch nicht umgebracht, oder? Mit keinem Wort hatte er erwähnt, ob er sie morgen verabschieden würde. Eine ausgedehnte, zuckersüße Abschiedsfeier hatte sie nun wahrlich nicht erwartet. Trotzdem verspürte sie leise Niedergeschlagenheit.
Ihre Abreise stimmte sie traurig. Während sie eigentlich versessen auf eine Rückkehr in heimische Gefilde hätte sein müssen, in denen Dialekt, Essen und nächtliche Geräusche vertraut waren, stellte sie fest, wie sehr es ihr vor der morgigen Abfahrt graute.
Mit ihrer üppigen Landschaft und dem melodischen Insektenkonzert, das sie allabendlich in den Schlaf gewiegt hatte, hatte die Insel sie in ihren Bann gezogen. Zu Beginn hatte sie die Feuchtigkeit als erstickend und beinahe unerträglich empfunden, aber inzwischen fand sie an diesem Gefühl auf der Haut Gefallen. Mit ihren moosbewachsenen Bäumen, die fast schon so alt wie die Brandung waren, wirkte die Insel überirdisch bezaubernd und verführerisch.
Genau wie Parker Evans. Doch diesen Gedanken verdrängte sie bewusst.
Die Manuskriptseiten waren feucht geworden, so fest hatte sie sie gehalten. Als sie das merkte, entspannte sie
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