Enwor 1 - Der wandernde Wald
Stunde später kommen dürfen, Skar. Sein… Geist hatte die Grenze zum Jenseits schon halb überschritten. Ich konnte ihn zurückholen, doch es wird lange dauern, bis er wieder ganz gesund ist. Du mußt dich gedulden.«
Skar bemerkte das unmerkliche Zögern in ihren Worten, aber er ging nicht darauf ein. Thoranda schien müde, unendlich müde; ein Mensch, der sein Äußerstes gegeben und nun ausgelaugt und leer war. Es schien eine Müdigkeit zu sein, die weit über das Maß des rein Körperlichen hinausging, eine Erschöpfung der Seele, die nicht allein mit Schlaf und ein paar Stunden der Ruhe zu beseitigen war. Vielleicht lag es daran, daß sie ihm plötzlich älter erschien, so alt, wie sie wirklich sein mochte. Ihr Gesicht hatte sich nicht verändert, aber die Spannung war daraus gewichen, und die Aura jugendlicher Kraft, die sie umgeben hatte, als er sie das erste Mal gesehen hatte, war fast vollkommen erloschen. Welcher Art, dachte er mit einem leisen Anflug von Schaudern, fast Erschrekken, war Thorandas Heilkraft wirklich? Er getraute sich nicht, die Heilerin danach zu fragen, aber er hatte plötzlich das sichere Gefühl, das sich ihre Kunst nicht allein auf die Anwendung von Kräutern und Medizin beschränkte.
»Ich würde gern mit Coar reden«, sagte er. »Weißt du, wo ich sie finde?«
»Sie ist nicht in der Stadt. Die Garde ist schon vor Sonnenaufgang aufgebrochen und wird kaum vor dem späten Nachmittag zurückkehren. Aber Larynn und ein paar der anderen sind zurückgeblieben. Wenn du willst, bringe ich dich zu ihnen.« »Das ist nicht nötig. Zeige mir den Weg, und —«
»Du würdest dich nur verlaufen«, behauptete Thoranda. »Außerdem tut es mir sicher gut, ein paar Schritte zu laufen. Alte Knochen müssen ständig in Bewegung gehalten werden, damit sie nicht einrosten«, fügte sie mit einem flüchtigen Lächeln hinzu. Sie stand auf, schlurfte zur Tür und winkte Skar, ihr zu folgen.
Skar blinzelte, als er ins helle Sonnenlicht hinaustrat. Es war warm, und über der Stadt lag ein schwerer, durchdringender Duft nach Blumen und Moos und Bäumen und frischem Gras, der ihm für einen Moment fast den Atem nahm. In den Zweigen über seinem Kopf zwitscherten Vögel, und als er die sanft geneigte Rampe zum Erdboden hinunterging, glaubte er einen schlanken braunen Schatten wie von einem Reh oder Hirsch zwischen den Stämmen hindurchhuschen zu sehen, eine Vorstellung, die ihm mit einem Male gar nicht mehr so abwegig erschien. Erst jetzt, gestärkt von drei Tagen Schlaf und Thorandas Pflege, wurde ihm klar, wie müde er beim Betreten Wents wirklich gewesen war, wie wenig er doch von der Stadt wahrgenommen hatte. Die wirkliche Schönheit Wents war ihm vollkommen verborgen geblieben.
Went war mehr als eine Stadt; das begriff er plötzlich. Es war kein Zufall, daß die einzelnen Gebäude wie hineingewachsen in den Wald wirkten. Vielleicht war es nicht einmal eine Stadt in dem Sinne, in dem er das Wort bisher gebraucht hatte; eher ein beinahe zufällig abgegrenztes Gebiet des Waldes, in dem Menschen lebten — so wenig verändert wie möglich und so viel wie unumgänglich nötig. Er erkannte jetzt, daß, was ihm am Morgen wie ein willkürliches und ungeplantes Bauen und Wuchern vorgekommen war, sich in Wirklichkeit perfekt in das von der Natur und dem natürlichen Wuchs des Waldes vorgegebene Muster einpaßte. Nicht ein einziges Gebäude, kein Steg und keine Straße störten den natürlichen Rhythmus des Waldes, nichts schien gewaltsam aufgesetzt. Es gab keine Breschen, die in den Wald geschlagen worden wären, um Platz für Häuser und Menschen zu schaffen, keine willkürlichen Veränderungen. Der Mensch hatte hier nicht zerstört, sondern geschaffen, die Natur nicht verändert, sondern vervollkommnet, hier und da ein wenig hinzugefügt, dort vorsichtig gerodet, Kanten und Ecken geglättet und vielleicht dort, wo die Natur selbst das Maß des Perfekten noch nicht erreicht hatte, behutsam eingegriffen. Went war keine Stadt, sondern eine Symbiose zwischen dem Schaffen der Natur und dem des Menschen, ein Ort, an dem sich göttliche und menschliche Fügung getroffen und auf vielleicht einmalige Weise vereint hatten. Selbst die wehrhaften Verteidigungsanlagen — der zweifach gestaffelte Ring der Dornenhecken, die Türme, das breite, deckungslose Gelände dazwischen, die Fallgruben — alles fügte sich perfekt in dieses riesige, auf seine ungeplante Art schon beinahe wieder symmetrisch und gewollt
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