Enwor 10 - Die verbotenen Inseln
stand. In ihren Augen war keine Spur von Furcht, sondern nur genau das, was sie gerade mit Worten ausgedrückt hatte: ein tiefes, vollkommen ehrlich gemeintes Mitleid, das ihn mit einem Gefühl von Wärme und Dankbarkeit erfüllte. Zum ersten Mal in seinem Leben machte ihn Mitleid nicht zornig, und er spürte plötzlich, wie viel, wie unendlich viel er versäumt und verloren hatte, einfach dadurch, daß er ein Leben fast ohne Freundschaft und Gefühle gelebt hatte. Stärker als je zuvor fühlte er sich zu dem Mädchen hingezogen, und heftiger als je zuvor fragte er sich, ob sie das war, wofür er sie hielt. Aber er brachte nicht einmal jetzt den Mut auf, sie zu fragen. Er hatte Angst, alles zu zerstören, wenn er nicht die Antwort bekam, die er hören wollte. Und vielleicht, dachte er, wollte er sie gar nicht wissen. Es mochte sein, daß es Lügen gab, die gut waren.
Irgendwann, nach einer langen Zeit, in der sie einfach in vertrautem Schweigen nebeneinander gesessen hatten, ohne sich wirklich zu berühren und doch näher, als Skar jemals einem Menschen gewesen war, stiegen sie wieder auf ihre Pferde und ritten weiter, in die Richtung, die Titch ihnen bedeutet hatte.
Gegen Morgen kam Regen auf, der nicht lange anhielt, aber einen eisigen Hauch über dem Land zurückließ, Kälte jener besonders unangenehmen Art, die nicht einmal sehr heftig war, aber unerbittlich durch jedes Kleidungsstück und jeden Schutz kroch und Skar das Gefühl gab, in einen Mantel aus schneidendem Glas eingehüllt zu sein. Er hatte Schmerzen; viel heftigere, als er Kiina gegenüber zugab, und er fühlte sich schwach und krank, und die Kälte ließ ihn jede winzige Verletzung, jeden Schnitt und jeden Kratzer auf seiner Haut doppelt intensiv spüren.
Er begann Kiina auszuweichen, auf die gleiche Art, auf die sie ihm ausgewichen war, vorher — ohne sich wirklich weiter als zwei, drei Schritte von ihr zu entfernen, ohne auch nur ihrem Blick auszuweichen oder sich mit einer Miene anmerken zu lassen, was wirklich in ihm vorging, und doch spürbar. Kiina mußte die Mauer, die er zwischen ihr und sich selbst aufrichtete, so deutlich fühlen, wie er es umgekehrt getan hatte. Der Gedanke schmerzte ihn, um so mehr, als er völlig andere Gründe hatte als sie: sie wußte, daß er krank war, und sie wußte wohl auch, daß er sterben würde, aber er wollte nicht, daß sie sah, wie schlimm es wirklich war. Trotz allem war er noch immer — jetzt erst recht — der einzige Schutz, den sie hatte.
Aber das stimmt doch gar nicht, Bruder,
wisperte die Stimme des Versuchers hinter seiner Stirn.
Ich bin bei euch. Ich kann auch ihr helfen. Wenn das alles ist, was du willst, dann schenke ich dem Mädchen dasselbe wie dir. Unsterblichkeit. Macht.
Skar ignorierte das körperlose Wispern. Er war nicht einmal sicher, ob es wirklich dagewesen war, oder ob er es sich nur einbildete; ganz einfach, weil ein Teil von ihm diese Worte hören wollte, so sehr, wie der andere Teil sich davor fürchtete. Vielleicht war der
Daij-Djan
gar nicht da; vielleicht war er nie dagewesen. Vielleicht wurde er schlicht und einfach verrückt.
Trotzdem ertappte er sich dabei, ganz automatisch den Kopf zu heben und aus zusammengekniffenen Augen in den Regen hinauszublinzeln, der noch immer fiel. Aus den strömenden eisigen Fluten war ein kaum sichtbares Nieseln geworden, das aber fast noch kälter war. Die winzigen Tropfen stachen wie Nadeln in sein Gesicht und taten in den Augen weh. Skar ignorierte auch diesen neuerlichen Schmerz und versuchte, das allmählich aufweichende Grau der Dämmerung mit Blicken zu durchdringen.
Sie ritten weiter nach Norden, ohne im Grunde wirklich zu wissen, wohin, oder gar warum, denn wenn Titch nicht zurückkam, dann waren sie so gut wie tot.
Nein, verbesserte sich Skar in Gedanken. Dann waren sie nicht so gut wie tot, dann waren sie tot, zwei Verlorene in einem Land, das nicht nur voller Feinde, sondern selbst ihr Feind war. Irgend etwas sagte Skar, daß sie hier nicht leben konnten, selbst wenn es die Quorrl und die Ssirhaa und alle anderen Ungeheuer, die sich noch in Cants finsteren Wäldern verbergen mochten, nicht gegeben hätte. Er hatte Ennarts Worte keine Sekunde vergessen:
Diese Welt wurde gemacht, Satai. Und mehr noch als für irgendeinen anderen Teil Enwors galt dies für Cant. Es war ein Land, das geschaffen worden war, von Wesen, die er sich nicht einmal vorzustellen vermochte, und für Wesen, die den Menschen so fremd und unverständlich
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