EONA - Das letzte Drachenauge
Ido angeht, habe ich ausdrückliche Befehle erteilt. Bitte mischt Euch nicht ein.«
»Lord Ido ist hier, um mich zu unterweisen, Hauptmann«, erwiderte ich nicht weniger eisig. »Ausgehungert und erschöpft nützt er mir nichts. Verweigert ihm also weder Nahrung noch Ruhe. Habt Ihr verstanden?«
Yuso funkelte mich an.
»Ob Ihr verstanden habt, Hauptmann?«, fauchte ich.
»Wie Ihr wünscht, Lady Eona.« Er senkte den Kopf zu einer steifen Verbeugung.
»Sieht so etwa Gehorsam aus, Hauptmann?«, fragte Ido sanft, doch er blickte mir dabei mit blitzender Belustigung in die Augen.
Ich wandte mich rasch ab und ging weg, damit keiner der beiden mein unterdrücktes Lächeln bemerkte.
Eines der neuen Gesichter – ein junger Mann mit den flachen Gesichtszügen der Hochebenenbewohner – verbeugte sich, als Vida mir unter den Bäumen eine Tasse Wasser einschenkte. Ich nippte an der lauwarmen Flüssigkeit, goss mir etwas davon in die Handfläche und und benetzte mir den Nacken. Zum Glück war ich nicht mehr in der Sonne und zum Glück auch nicht länger Idos scharfem Verstand ausgesetzt: Er spielte mit uns allen, als wären wir das Verehrte Strategiespiel.
Im Gras nahebei saß Dela mit vor Konzentration gerunzelter Stirn über dem roten Buch und fuhr die in alter Schrift verfassten Zeilen entlang. Sie sah nicht einmal auf, als Ryko ihr einen Becher Wasser brachte. Der stämmige Mann stellte ihn neben ihr ab, setzte sich einige Schritte entfernt nieder und deckte ihr als stummer Wächter bei der Arbeit den Rücken.
Ich ertappte mich dabei, wie ich Ido immer wieder beobachtete, als zöge er meine Aufmerksamkeit magnetisch an. Jun hatte ihn schließlich in den Schatten eines Baums geführt, der ein gutes Stück von uns Übrigen entfernt war. Das Drachenauge saß gebeugt am Stamm, die Hände ungelenk vor sich ausgestreckt. Ido blickte in meine Richtung und die Umrisse seines dunklen Kopfs hatten etwas seltsam Vertrautes.
»Mylady«, sagte der junge Mann von der Hochebene zu mir, »Seine Majestät wünscht Euch nun zu sehen.«
Aufgeschreckt wandte ich den Kopf und begegnete Kygos unbewegtem Blick. Meine Haut kribbelte, als wäre ich bei etwas Schlimmem ertappt worden. Er saß auf einem umgestürzten, in den Schatten eines großen Baumes gerollten Stamm auf einer Decke: der Thron eines um seine Macht gebrachten Kaisers. Selbst in Ruhe strahlte sein durchtrainierter, geschmeidiger Körper angespannte Wachsamkeit aus.
Er zog die lange Flechte seines Kaiserlichen Zopfs über die Schulter und fuhr mit der Hand darüber; das tat er nur, wenn er beunruhigt war. Ich lächelte und bemerkte erleichtert, dass er sofort zurücklächelte. Nach Idos Spielchen war Kygos Freundlichkeit wie süßer Balsam. Ich unterdrückte den albernen Wunsch, zu ihm zu laufen, und überquerte die Lichtung in möglichst würdevoller Haltung.
»Majestät«, sagte ich und verbeugte mich.
»Lady Eona«, erwiderte er ebenso förmlich.
Wir zögerten kurz, denn die vielen getrennt verbrachten Stunden hemmten uns. Dann ergriff er meine Hände und drückte die Lippen auf meine Finger. Ich spürte, wie sich der Abstand zwischen uns in dieser raschen, unvermittelten Geste aufhob. Und ich empfand etwas Neues: Besessenheit.
»Vorhin konnte ich Euch nicht angemessen begrüßen«, sagte er und sah rasch zu Ido. »Ich hatte meine Abneigung gegen diesen Mann unterschätzt.«
»Habt Ihr Yuso befohlen, ihn zu bestrafen, Majestät?«
Meine unerwartete Frage ließ ihn blinzeln. Ich hatte nicht so abrupt fragen wollen, doch ich konnte meine kribbelnde Unruhe nicht unterdrücken.
»Ihr meint die Segnung? Nein, die habe ich nicht befohlen.«
»Dann handelt Yuso also von sich aus?«
»Yuso weiß, wie wichtig das schwarze Buch für uns ist. Aber vielleicht habe ich ihm nicht deutlich genug gemacht, dass Ido in Ruhe gelassen werden soll, vorerst jedenfalls.« Er hob meine Hand. »Kommt, setzt Euch zu mir.«
Die Ehre dieser Einladung und seine weiche, beschwingte Stimme überwanden mein nachklingendes Unbehagen. Ich erhob mich von den Knien. Als ich mich auf den Stamm setzte, zog er mich zu sich heran, bis unsere Schenkel sich beinahe berührten, und legte unsere verschränkten Hände – eine Brücke von Körper zu Körper – auf den schmalen Zwischenraum zwischen uns.
Dela blickte stirnrunzelnd von ihrem Studium des roten Buches auf. Erst dachte ich, sie würde es missbilligen, dass ich so eng mit dem Kaiser beisammensaß, doch dann begriff ich, dass sie
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