EONA - Das letzte Drachenauge
das Feuer des Leidens ihm diesen Ehrgeiz noch tiefer ins Herz gebrannt. Ganz gleich: Ich hatte das Gefühl, auch er verstand nicht alle Teile des Puzzles.
Das schwarze Buch barg das Geheimnis einer Waffe, die den Drachen ihre ganze Macht raubte, und das rote Buch barg eine Weissagung, die den Weg aufzeigte, wie diese Macht gerettet werden konnte. Zwischen beiden bestand offensichtlich eine tiefere Verbindung, doch ich konnte sie nicht erkennen. Ich grub meine Finger in den Sand und harkte enttäuscht durch die warmen Körnchen. Es kam mir so vor, als ob jede neue Information nur auf sich selbst verwies, und während man noch glaubte, man käme der Wahrheit näher, hatte sich ein weiterer Schleier über die Lösung des Rätsels gelegt. Warum nahm unsere Drachenaugenmacht ab? Und wie konnte das Hua Aller Menschen die Drachen retten? Hatte es etwas zu tun mit der Perlenkette? Doch wenn es stimmte, was Ido sagte, dann war diese Kette eine zerstörerische Kraft und kein Weg zur Rettung.
Eines wusste ich mit Sicherheit: Ich würde Kygo die Kaiserliche Perle niemals vom Hals reißen können.
Idos Körper spannte sich plötzlich an und riss mich aus meinen Gedanken. Ich folgte seinem Blick zum Deich; die Zahl der dort versammelten Dorfbewohner hatte sich verdoppelt. Caido und seine zwei Männer hatten auf dem Steinwall Posten bezogen. Drei Soldaten gegen mindestens fünfzig Dorfbewohner. Und offenbar waren die kräftigen Männer doch nicht alle zum Fischen aufs Meer hinausgefahren.
Ido runzelte die Stirn. »Denken sie, dass ich wehrlos bin?«
»Wir sollten gehen«, erwiderte ich und stand auf.
»Nein.« Ido fasste mich am Arm und zog mich zurück in den Sand. »Wir sind Drachenaugen. Wir lassen uns nicht von irgendwelchen Bauern vertreiben. Keine Sorge. Was ich Euch jetzt zeige, wird sie in Schach halten.«
Er drückte die Handflächen – die Tore der Energie – in den Sand, holte tief Luft und legte den Kopf in den Nacken. Fast augenblicklich sah ich die silberne Macht durch seine Pupillen gleiten. Beim nächsten Atemzug schwoll seine breite Brust an. Er stieß die Luft aus und atmete in sanftem, regelmäßigem Rhythmus weiter. Dann löste die herrliche Vereinigung mit seinem Drachen die Anspannung in seiner Miene. In ihm pulsierte freudige Energie, deren Hochgefühl tief ins Innere meines Körpers drang wie ein leises Trommeln.
Mit silbrigem Blick sah er mir in die Augen. »Ihr spürt es auch, nicht wahr?«
Ich wollte ihm nicht die Befriedigung einer Antwort verschaffen.
Dann war seine Aufmerksamkeit anderswo, jenseits der körperlichen Welt. Die Luft ringsum sang und das Singen steigerte sich zu einem Kreischen, sodass die Dorfbewohner voller Furcht vom Deich zurückwichen. Energie krachte und bebte am Himmel. Ein langer bleicher gezackter Blitz zerriss die dunklen Wolken mit einem Knall und flackerte Richtung Meer, doch dann erstarrte er, als hätte eine gewaltige Hand ihn gepackt, machte langsam kehrt und wies nun direkt auf das Dorf, wobei seine geballte Macht in der Luft schwebte. Ich hörte Schreie, doch ich war wie gelähmt von der erstarrten Flamme aus Energie über uns.
»Soll ich diesen Dorfbewohnern etwas Respekt beibringen?«, fragte Ido. »Auf der anderen Seite des Hügels sind noch mehr.«
»Nein!«
Er lachte leise und ließ den Blitz los. Ich zuckte zusammen, als der Energiestrahl mit einem mächtigen Dröhnen nur ein kleines Stück entfernt in den Sand fuhr. Bei dem Aufschlag erbebte der Strand, als glitte ein Ungeheuer unter uns dahin.
»Heilige Shola.« Ich kroch von der Stelle weg, wo der Blitz eingeschlagen hatte, und ein stechender Geruch stieg mir in die Nase und in den Mund. Dann war alles still.
Mit einem verächtlichen Blick auf die Dorfbewohner, die hinter dem Deich in Deckung gegangen waren, erhob sich Ido und wischte sich den Sand von der Hose. »Kommt.« Er winkte mich zu der Vertiefung, wo der Blitz in den Strand gefahren war und den Sand geschmolzen hatte. »Das ist das Beste daran.«
Er hockte sich hin, schaufelte den Sand vorsichtig weg und schob ihn hinter sich zu zwei Haufen zusammen. Vorsichtig ging ich das kurze Stück zu Ido hin und spähte in das Loch, das er gegraben hatte.
»Da«, sagte er. Etwas Weißes ragte aus dem Sand. »Helft mir, es herauszubekommen.«
»Was ist das?« Ich kniete mich hin und grub auf der anderen Seite des vorstehenden Teils.
»Vorsicht. Es ist zerbrechlich.«
Wir gruben tiefer und schoben den immer kühleren Sand weg. Schließlich zog
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