EONA - Das letzte Drachenauge
dem Obst essen«, sagte Vida und wies auf den Reiseproviant an meiner Schärpe. »Es wird ein harter Tag.«
»Vida«, rief Solly. »Bring mir die Essenstaschen dort.«
Mit einer Kopfbewegung wies sie erneut auf meine Vorräte und schlang sich dann die langen, prallen Beutel um die Schultern. Ich sah Ryko und seinem Kameraden von der Garde beim Überprüfen von Sätteln und Steigbügeln zu. Tiefe Stille lastete auf uns. Was war im Hof geschehen, dass es zu einer solchen Spannung hatte kommen können? Plötzlich sah ich den mit einem Schwert durchbohrten Haddo vor mir.
Hastig band ich den Zopfkranz mit Trockenfrüchten von der Schärpe und konzentrierte mich darauf, damit das furchtbare Bild verschwand. Endlich hatte ich den Kranz gelöst, riss eine Dörrpflaume ab und steckte sie ganz in den Mund (eine Jungengewohnheit, die ich ändern musste), doch diesmal sah niemand zu. Ich schloss die Augen und genoss die plötzliche Flut staubiger Süße. Als wäre die zuckrige Frucht der Auslöser gewesen, durchströmte mich unversehens eine tiefe Müdigkeit. Ich wollte nichts als schlafen und mich von Blut und Schrecken erholen, doch vor mir lag ein scharfer Tagesritt. Ich sandte ein kleines Gebet zu den Göttern hinauf: Helft mir, mich auf des Kaisers Pferd zu halten – und mit diesen hartnäckigen Geistern zu leben.
»Lady Eona.«
Ich schlug die Augen auf. Kygo stand in schlichtem braunen Hemd und Hose vor mir. Ein Stehkragen verdeckte seine Kaiserliche Perle, doch ich sah die oberen Stiche, mit denen das Schmuckstück an den Hals genäht war. Rasch schluckte ich den Rest der Pflaume hinunter.
»Majestät«, sagte ich und setzte zu einer Verbeugung an, doch er nahm mich am Arm und richtete mich wieder auf.
»Dies ist weder die Zeit noch der Ort für höfische Etikette.« Er ließ mich los. »Wie ich sehe, seid Ihr nicht mehr lahm; sicher ein Geschenk der Götter für Euren Mut.«
Ich öffnete den Mund, um zu antworten, bekam aber keine Gelegenheit dazu.
»Ich bin Euch sehr dankbar«, fuhr er fort, »dass Ihr mich aus meinem Blutrausch geholt habt. Ich weiß …« Er hielt inne und seine dunklen Augen blickten plötzlich düster. »Ich kann mich an alles erinnern, was geschehen ist. An Euren Mut und Eure Treue …«
»An alles?«, wiederholte ich. Wusste er also auch, dass Kinras Schwerter ihn hatten töten wollen?
Er blickte durch mich hindurch. »Ich sehe sie alle. Jedes Gesicht.«
Aha. Ich war also nicht die Einzige, die mit Geistern zu kämpfen hatte. Mir war klar, dass ich nicht nach den Soldaten im Hof fragen sollte, doch die gemeinsam durchlebten Schrecken des frühen Morgens und Kygos gequälte Dankbarkeit gaben mir wieder Mut. Ich berührte ihn am Arm.
»Habt Ihr auch die Verwundeten getötet?«
Er straffte sich und der gewaltige Rangunterschied zwischen uns war wieder da. »Das war eine militärische Entscheidung, Lady Eona. Mischt Euch nicht in Dinge ein, die Euch nichts angehen.«
»Euer Vater hätte so etwas nicht getan«, erwiderte ich.
»Ihr wisst nicht, was mein Vater getan oder gelassen hätte.«
Aus den Augenwinkeln sah ich, wie Ryko und der andere Gardist in ihren Arbeiten innehielten und sich zu mir umwandten. Aber ich konnte die Sache nicht auf sich beruhen lassen, ich wollte, dass Kygo seinem Vater nacheiferte.
»Habt Ihr sie getötet?«, fragte ich wieder. »Sagt mir, dass Ihr das nicht getan habt.«
»Wer seid Ihr, dass Ihr es wagt, so mit Eurem Kaiser zu sprechen? Ihr seid nicht mein Naiso . Ich nehme von Euch weder Rat noch Kritik an«, entgegnete er kühl. »Ihr seid nicht einmal ein echter Lord. Verhaltet Euch so, wie es Eurer Stellung geziemt, Frau.«
Seine Abfuhr verschlug mir kurz die Sprache. Dann drang etwas durch die Fesseln von Pflicht und Furcht. War es meine Wut? War es die letzte Glut von Kinras altem Zorn? Ich wusste es nicht und plötzlich war es mir auch gleich. Mir war nur klar, dass dieses Gefühl stark war und dass es aus mir kam.
»Ich bin das Herrschende Drachenauge«, sagte ich mit zusammengepressten Zähnen. »Ob ich nun Lord bin oder Lady oder keines von beidem – ich bin Eure einzige Verbindung zu den Drachen. Vergesst das nicht. «
Die Wahrheit in meinen Worten ließ seine Augen düster flackern.
Er trat näher und benutzte seine Größe, um mich in die Enge zu treiben. »Ich hoffe, Ihr könnt diesem Anspruch gerecht werden«, begann er. »Viele Männer und Frauen verlassen sich auf Eure Macht. Und doch hat Ryko mir gesagt, dass Ihr sie noch immer
Weitere Kostenlose Bücher