EONA - Das letzte Drachenauge
dicht stehenden Ebereschen, und die ersten Sonnenstrahlen drangen kaum durch das Blätterdach zu der dicken Laubschicht am Boden. Der Weg war nicht weit, doch als wir zum Bach kamen, war aus der morgendlichen Brise schon der stärkere Wind geworden, der den Monsunregen brachte.
»Seid vorsichtig«, mahnte Vida. »Die Überschwemmung hat die Ufer aufgeweicht.«
Das Gras lag flach da, ein sicheres Zeichen dafür, dass das Wasser zurückgegangen war. Ein Stück weiter abwärts war der Schlamm aufgewühlt und voller Fußabdrücke und Hufspuren.
»Ich freu mich nicht gerade auf einen weiteren Tag zu Pferde«, sagte ich, um etwas Ungezwungenheit zwischen uns zu schaffen. »Ich komme mir vor, als wäre ich zu einem unauflöslichen Knoten zusammengeschnürt.«
Vida lächelte. »Das geht vorbei.«
»Das hab ich auch gehört.« Ich trat vorsichtig auf und ertastete weichen, aber tragenden Grund. Behutsam ging ich in die Hocke, tauchte die Hand in das kalte Wasser und ließ es durch die Finger fließen. »Du wirkst so, als würde es dir gar nichts ausmachen«, fügte ich hinzu. »Bist du viel geritten?«
Ihr Schweigen war zu lang für meine Frage. Ich drehte mich um.
Vida stand da, die Arme um den Leib geschlungen, und ihr Gesicht war verquollen von unvergossenen Tränen. »Mein Verlobter hat es mir beigebracht.«
Eine ganze Weile waren wir gefangen in wechselseitigem Schmerz: ihr Verlust und meine aufkeimende Schuld. Ihr Verlobter war einer der Dorfbewohner gewesen.
»Das wusste ich nicht. Und es tut mir leid«, flüsterte ich. Wie unangemessen diese Worte waren!
»Lady Dela sagte, Ihr konntet es nicht beherrschen.«
»Nein.«
Vida nickte und nahm meine Antwort hin. »Das müsst Ihr aber.«
Ich wandte mich wieder zu dem rasch fließenden Wasser um, weg von ihrer Traurigkeit. Meine Finger waren taub vor Kälte und ich rieb sie an meinem Rock, um sie zu wärmen. Mir war klar, dass ich noch etwas sagen sollte – etwas Bestätigendes oder eine weitere Entschuldigung –, doch als ich mich erneut zu ihr umsah, zog sie sich bereits ins Unterholz zurück.
Sie würde wiederkommen, sie würde den Befehl ihres Kaisers nicht missachten. Doch sie verdiente etwas Zeit für ihre Trauer. Ich konnte zwar keinen wirklichen Trost spenden, aber ich konnte versuchen, meine Macht zu beherrschen. Wenigstens indem ich Kinra bat, mit ihrer geisterhaften Wut auf Kygo und mit ihrer alten Gier nach der Perle nicht weiter auf mein Herz zu zielen. Falls ich Glück hatte, würde sie mein Gebet erhören.
Der Beutel mit den Totentafeln war unter meiner Schärpe festgebunden. Ich nahm ihn heraus, zog das Band auf, das ihn zusammenhielt, und stülpte ihn um. Die beiden fingerlangen, schwarz lackierten Holzstücke glitten in meine Hand. Ich nahm die schlichtere Tafel. Eine dünne einradierte Linie verlief am Rand entlang, und fachmännisch in das Material getriebene Buchstaben ergaben das Wort »Charra«. Meine unbekannte Vorfahrin. Diese Tafel tat ich zurück in den Beutel und schob ihn zur Sicherheit wieder unter die Schärpe. Mit Charra hatte ich keinen Streit.
Die andere Tafel war erheblich abgegriffener, doch Reste einer aufwendigen Verzierung waren noch zu sehen. Ich strich mit dem Daumen über die elegant ins Holz geschnitzten, mit Blattgold verzierten Buchstaben »Kinra« und tastete über den kleinen Drachen, der sich unter dem Namen schlängelte.
Dann kniete ich nieder. Die mit Wasser vollgesogene Erde quatschte unter mir und kaltes Wasser drang durch meinen Rock und meine Unterkleider. Ich hielt die Tafel von mir weg und schloss die Hand darum, bis ich die Kanten durch den Verband hindurch spürte.
Kinra, Spiegeldrachenauge , betete ich und sandte meine ganze Angst und Enttäuschung in meine Faust. Lass mich in Ruhe. Hör bitte auf, mir deine Wut und dein Begehren einzuflößen. Bitte lass davon ab, Kygo zu verletzen und die Perle zu rauben.
Das war kein ausgefeiltes Gebet, aber schließlich war ich kein Flehender. Als ich die Faust wieder öffnete und das Relikt betrachtete, überkam mich die Erinnerung an einen heiligen Mann, der vor Jahren in der Saline zu uns predigte. Er hatte nicht nur geglaubt, unsere Vorfahren säßen in den Schreinen ringsum, sondern er hatte auch unbeirrt daran festgehalten, dass ihre Geister in den Totentafeln wohnten. Meine Freundin Dolana hatte diese Lehre als den Wahn eines Fanatikers abgetan. Nun überlegte ich, ob der heilige Mann nicht vielleicht doch recht gehabt hatte. Vielleicht hatte Kinra
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