Epicordia
Augenblick,
welcher wohl der Westflügel war, und versuchte, sich im Kopf einen ungefähren
Lageplan von Ravinia heraufzubeschwören. SchlieÃlich
entschied sie sich für die rechte Tür, denn sie wusste, dass die
botanischen Gärten im Süden lagen.
Tatsächlich war Patricks Zimmer nicht schwer zu finden
â und es war absolut unverwechselbar.
Die düstere
Holzvertäfelung setzte sich auch hier fort und tauchte den Raum in die
wärmenden Farben des Abends von Ravinia. Einige wenige
Staubflocken wirbelten in der Luft, beleuchtet
vom letzten Abendlicht. Alles stand voll mit Möbeln. Hinter einigen Regalen
konnte Lara die Pfosten eines kunstvollen Himmelbetts sehen, aus
ebensolch dunklem Holz gefertigt wie die
Vertäfelungen der Wände. Ãberall lagen Bücher. Auf jedem Regal, auf
jedem Tischchen und überhaupt auf jeder Ablagefläche. Viele waren aufgeschlagen
und Stellen waren darin mit Bleistift markiert. Lara warf einen Blick in eine
Ausgabe von Shakespeares King Lear und sah
merkwürdige Anmerkungen und Worte an den Rändern. Teilweise waren ganze
Strophen einfach umkringelt.
Lara seufzte. Eine traurige Geschichte mehr in diesem
Haus. Schon in der Schule hatte ihr der alte König Lear am Ende stets
leidgetan.
Hinter einem der Schränke hörte sie ein Geräusch und
sah nach. Patrick saà dort auf dem Boden und räumte nacheinander jede Menge
Krimskrams aus einer kleinen Truhe.
»Hey«, sagte sie leise.
»Hey«, machte Patrick, ohne aufzusehen, und stellte
eine alte Spieluhr neben sich auf dem Boden
ab, die er zuvor aus der Truhe gefischt hatte. Sie begann eine
melancholische Melodie zu spielen.
Eigenartig, dachte Lara. Trübsal schien irgendwie im
gesamten Haus zu schweben und von allen hier Besitz zu ergreifen.
Mr Jones gesellte sich zu ihnen. Kurzerhand ergriff er
die Initiative und begann sehr sorgfältig, Patricks Ohr abzuschlabbern. Der
wollte ihn wegschieben, doch der alte Hund blieb so lange beharrlich, bis der
junge Schreiber endlich aufsah.
In seinen Augen schwammen Schatten, die vorher noch
nicht dort gewesen waren. Das mochte vielleicht schon von der puren Anwesenheit
in diesem Haus kommen. Wer wusste schon, was hier alles vorgefallen war.
Vielleicht war es deshalb völlig normal, dass Patrick keine Probleme bekam in
Epicordia, nicht aggressiv oder depressiv wurde.
»Erzähl mir, was diesen Ort zu dem macht, was er
ist!«, versuchte sie es und reichte ihm die Hand.
Er griff zu, aber anstatt sich hochziehen zu lassen,
stemmte er sich aus den Knien selbst hoch â jedoch ohne die Hand loszulassen.
Ein Gentleman. Zumindest hätte er wohl zu einem werden sollen.
»Tja«, meinte er und klopfte sich Staub von der Hose.
»Es scheint, als wäre mit meinen Eltern auch alle Fröhlichkeit aus diesem Haus
gewichen.«
Er ging zum Fenster und sah hinunter in den Garten.
»Was ist mit ihnen geschehen?«, fragte Lara. Zärtlich
und fordernd zugleich. Sie wusste, dass Ravinia die Stadt der Waisen war.
Alistor Sullivan hatte ihr das erklärt. Wie ein Deut des Schicksals war es,
dass so viele hier ohne Eltern waren. Und zugleich wusste sie selbst genau, wie
es war, keine Eltern zu haben.
»Meine Mutter ist gestorben, als ich vier Jahre alt
war.«
Lara überlegte weiter â eigentlich war es so nicht
ganz richtig. Immerhin hatte sie ihre eigenen Eltern selbst nie wirklich
kennengelernt. Es mochte vielleicht sogar noch eine Spur schlimmer sein, wenn
man sie gekannt hatte.
»Wie ist es passiert?«
Doch irgendwie wusste sie es bereits.
»Winter«, sagte Patrick bloà und trotz des Sommers um
sie herum war es, als gefröre sein Atem an der Scheibe.
»Aber warum?«
Diesmal war sie es, die ihre Hand auf seine Schulter
legte. Doch das reichte nicht. Sie schlang den Arm von hinten um ihn und
drückte ihre Wange sanft an seinen Rücken. War das etwas, das sie verband?
Roland Winter, der ihre Eltern umgebracht hatte?
»Warum hat er deine Eltern getötet?«, fragte Patrick
zurück, aber es klang nicht mehr so kühl wie noch vor ein paar Sekunden. Jetzt
nicht mehr, da Lara sich an ihn lehnte.
»Sie haben sich widersetzt«, hauchte sie und
überlegte, wie schlüssig das klang. »Zumindest dachte ich das immer. Er wollte
sie auf seiner Seite haben, doch sie wollten ihm nicht gehorchen.«
»Hm«, machte Patrick. »Meine Eltern haben sich ihm
nicht bloÃ
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