Epsilon
vage. Später hatte sie begriffen, dass er in dieser Zeit sehr hart gearbeitet und eine Karriere aufgebaut hatte, die ihn schnell im Außenministerium hatte aufsteigen lassen und schließlich zu einer ganzen Reihe von Regierungsaufträgen führte, zu Verpflichtungen als Sonderberater und Gastprofessor. Aber er hatte stets Zeit für sie gehabt, wenn sie ihn brauchte, und er hatte sie von Kindesbeinen an dazu ermutigt, Fragen zu stellen und sich eine eigene Meinung zu bilden. Und als ihr intellektuelles Potential zu Tage getreten war und sie davon gesprochen hatte, zu promovieren, hatte er sie erneut unterstützt. Sie brauchte seine Hilfe nicht, um von den besten Schulen angenommen zu werden. Ihre Fähigkeiten waren Referenz genug. Aber als es darum ging, Geldmittel zu bekommen und Kontakte herzustellen, hatte es ihr nicht geschadet, einen Vater zu haben, der eine solch einflussreiche Position innehatte wie Amery Hyde. Dabei schien ihr Vater selbst über relativ wenige Kontakte zu verfügen. Es war Susan immer so vorgekommen, als kenne er bloß jemanden, der seinerseits die entsprechenden Beziehungen hatte.
Kurz stieg Unbehagen in ihr auf, als sie sich daran erinnerte, dass er die Pilgrim-Foundation für sie überprüft und ihre Mitglieder als anständige Philanthropen bezeichnet hatte, denen sie unbesorgt vertrauen konnte. Es wäre ihm leicht gefallen, sie zu belügen, wusste er doch, dass seine Tochter bedingungslos alles glauben würde, was er ihr sagte. Augenblicklich schämte sie sich jedoch für diesen Gedanken und den Verdacht, der damit einherging. Etwas in ihr schien ihren Vater schuldig sprechen zu wollen, bevor sie überhaupt einen handfesten Beweis in der Hand hatte. Was war los mit ihr?
Es war richtig, dass er stets sehr distanziert gewirkt hatte; er war nun einmal ein ausgesprochen in sich gekehrter Mensch. Doch wenn er sich dann zu etwas äußerte, hatte es Hand und Fuß. Und meist waren es gemäßigte Ansichten. Amery Hyde war kein Mann der Extreme. Susan hatte immer akzeptiert, dass es Dinge gab, über die er nicht reden konnte, Geheimnisse, die er wahren musste; es war für sie zur Selbstverständlichkeit geworden. Doch konnten diese Geheimnisse tatsächlich jene sein, die Charlie mit seiner Behauptung meinte? War ihr Vater zu solch einer Täuschung fähig, ganz zu schweigen von der Skrupellosigkeit, die eine solche Täuschung voraussetzte?
Ganz unwillkürlich, als handele es sich um eine Kraft, der sie nichts entgegenzusetzen hatte, wurde Susan von diesen Gedanken abgestoßen. Doch sie wollten einfach nicht aus ihrem Kopf verschwinden.
Sie dachte an ihren ersten Impuls unmittelbar nach Charlies Behauptung; den Impuls, ihren Fluchtplan fallen zu lassen. Die Vorstellung, dass ihr Vater in die ganze Sache verwickelt sein könnte, hatte alle Pläne durcheinander gebracht, und sie wusste nicht, wie sie damit umgehen sollte. Sie fühlte sich vollkommen verunsichert, ihre Entschlossenheit war ins Wanken geraten. Es war Charlie gewesen, der nein gesagt hatte. Das sei nun seine Entscheidung. Es war Charlie, der Antworten wollte, und er würde sie nur bekommen, wenn sie ihren Plan bis zum Ende ausführten.
Natürlich konnte sie ihn aufhalten; aber dazu hätte sie West ihren Verrat gestehen müssen. Und Charlie glaubte nicht, dass sie das tun würde.
Natürlich hatte er Recht.
49
Das Wochenende begann für Susan am darauf folgenden Nachmittag, einem Freitag. Die Privatmaschine brachte sie zur Ranch, wo sie rechtzeitig genug eintraf, um mit Christopher zu Abend zu essen. Danach spielten sie Karten und sahen ein wenig fern.
Susans Vater sollte am nächsten Morgen mit einer Linienmaschine aus Washington eintreffen, wo er die letzten Tage geschäftlich unterwegs gewesen war. Die Leichtigkeit, mit der er zu seinem normalen Leben zurückgekehrt war, war ein weiterer Faktor, der den schrecklichen Verdacht, der an Susan nagte, noch verstärkte. Um ihn zum Verstummen zu bringen, zwang sie sich, an andere Dinge zu denken, vor allem an den Plan, auf den sie und Charlie sich geeinigt hatten. Doch nun wagte Susan es nicht mehr, ihn ihrem Vater zu unterbreiten.
Am Samstag stand Susan nach einer weiteren schlaflosen Nacht früh auf. Sie sah aus dem Fenster in einen klaren Herbstmorgen hinaus. Ihr fiel auf, dass der größte Unterschied zwischen der Simulation, die sie Charlie gezeigt hatte, und der Wirklichkeit die Farbe der Blätter war; sie hatte ganz vergessen, wie schnell die Jahreszeiten wechselten. Doch das
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