Epsilon
Sie mir, Sie werden für diesen Missbrauch meiner Arbeit und der Arbeit anderer bezahlen müssen.«
»Diese Diskussion hatten wir schon einmal, Susan. Ich habe versucht, Ihnen klarzumachen, dass Wissen kein Privateigentum ist. Anzunehmen, dass auch nur das kleinste Bruchstück Wissen Ihnen und nur Ihnen allein gehört, ist ein sehr viel größerer Diebstahl als der, den Sie uns vorwerfen. Wissenschaftler schaffen kein Wissen: Sie entdecken es. Existent ist es immer; es wartet nur auf jemanden, der den Zipfel des Tuches anhebt, unter dem es verborgen liegt.«
»Ich habe nie Besitzansprüche angemeldet. Meine Arbeit fand in aller Öffentlichkeit statt, sie wurde veröffentlicht und diskutiert. Jeder hätte sie auf die Art und Weise missbrauchen können, wie Sie es getan haben, aber die meisten Menschen würden es nicht wollen, und die Gesellschaft würde es nicht zulassen.«
Sein Lächeln wurde dünner, und Susan erkannte die wachsende Ungeduld, die sich dahinter verbarg.
»Es ist vollkommen sinnlos, wenn wir uns über moralische Aspekte streiten, Susan. Wir sehen die Dinge aus unterschiedlichen Blickwinkeln. Mehr gibt es dazu nicht zu sagen.«
»Vielleicht können wir uns in einem Punkt einigen.«
Er blickte zu ihr auf. Eine Falle? Die Vorbereitung für eine letzte Beleidigung, bevor sie ging? Wie auch immer, es kümmerte ihn nicht wirklich.
»Und der wäre?«
»Nennen Sie mich von nun an Dr. Flemyng. Ich mag es nicht, wenn Sie mich beim Vornamen nennen.«
»Wie Sie wünschen.«
Er neigte den Kopf leicht zur Seite. Es war eine elegante Geste, mit der er ihr den Punkt zugestand, auch wenn er weiterhin abgewandt von ihr sitzen blieb.
»Sagen Sie mir nur eins, Dr. Flemyng. Trotz all Ihrer abstrakten moralischen Einwände, finden Sie das Ganze nicht auch ein klein wenig aufregend? Als Wissenschaftlerin? Nur ein ganz klein wenig?«
Susan spürte, wie der Zorn sie, einem Stromstoß gleich, durchfuhr. Dies war der Augenblick, in dem sie alle Kontrolle zu verlieren drohte, in dem sie kurz davor stand, zuzuschlagen oder etwas nach West zu werfen, ihm nach Kräften zu schaden, egal um welchen Preis. Sie erkannte diese Gefahr – und damit war sie auch schon gebannt. Sie unterdrückte ihren Zorn und hielt ihre frostige Fassade aufrecht.
»Wenn die Welt eines Tages erfährt, was Sie hier tun, Dr. West, dann werde ich mich, obwohl ich von Ihnen dazu gezwungen wurde, tief für meine Arbeit schämen.«
»Seien Sie versichert, Dr. Flemyng, dass die Welt es nie erfahren wird. Zumindest nicht, bis sie solche Dinge als selbstverständlich ansieht, so selbstverständlich wie heute zum Beispiel Raumschiffe und Fernsehen. Das ist der Fortschritt, Dr. Flemyng, Evolution. Wir können nichts aufhalten.«
Während er sprach, hatte er sich von seinem Schreibtisch erhoben und war zum Fenster getreten. Susan folgte jeder seiner Bewegungen. Ihre Augen waren noch immer auf ihn geheftet, als er sich zu ihr umdrehte. Im Gegenlicht war er beinahe nur noch als Silhouette zu erkennen.
»Den Fortschritt aufhalten«, sagte er mit der Überzeugung eines Kaisers, der sein Urteil fällt, »das ist das Einzige, das wir nicht können.«
Im Fahrstuhl auf ihrem Weg nach unten fiel Susan auf, dass es ihr wieder einmal nicht gelungen war, festzustellen, ob die Aussicht aus Wests Büro tatsächlich so schön war, wie sie vermutete.
32
Charlie dachte über die Frage nach. Woher kannte er das Ritual? Woher hatte er gewusst, dass er über seinen geschlagenen Gegner steigen musste, um seinen Sieg endgültig zu besiegeln? Wieso vermittelte ihm das ganze merkwürdige Erlebnis das Gefühl, als käme er nach Hause, als greife er alte Gewohnheiten auf, als schlüpfe er in bequeme, oft getragene Kleider?
Der Gedanke an Kleidung brachte ihn dazu, wieder an sich hinabzusehen, auf das dichte schwarze Fell und den fremden Körper, der sich merkwürdigerweise nicht mehr so fremd anfühlte.
In der Zwischenzeit nahmen die Rituale ihren Lauf: Eines der Männchen, das er besiegt hatte, brachte ihm einen Zweig mit Blättern, die Charlie – wiederum auf unerklärliche Weise – als essbar erkannte. Er probierte eines; es hatte einen intensiven, angenehmen Geschmack. Ein anderer Schimpanse gab ihm eine Hand voll Zweige; Charlie wusste nicht, was das bedeutete, nur dass es ein Geschenk war. Doch dann sah er, dass die winzigen Zweige auf eine ganz bestimmte Art und Weise geflochten waren. Es war ein Kunstwerk, ein wertvolles Objekt, von dem Affen selbst
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