Epsilon
wollte.
»Ihre Kindheit, alles bis zu der Zeit, als Sie auf die Farm kamen…«
West hielt inne und gab Charlie Zeit, sich auf die Ungeheuerlichkeit dessen vorzubereiten, was er nun erfahren würde.
»Zeigen Sie es ihm, Dr. Flemyng.«
Susan legte einen weiteren Schalter um, wobei sie es weiterhin vermied, Charlie in die Augen zu sehen.
Der Lärm war unbeschreiblich. Charlie glaubte, das Trommelfell müsse ihm platzen. Es war das laute Klirren von Stahl, begleitet vom dumpfen Hämmern einer großen Dieselmaschine. Charlie wusste sofort, wo er sich befand. Genauso war es gewesen: der Rangierbahnhof, der Güterzug, auf den er und Kathy aufzuspringen versuchten, verfolgt von den beiden Polizisten.
Charlie packte einen der Türgriffe, schwang seine Füße auf das schmale Trittbrett und zerrte die Waggontür auf. Dann beugte er sich zu Kathy hinunter, streckte ihr eine Hand entgegen, um sie hochzuziehen, bevor sie stolperte und hinfiel – oder auch einfach nur den Versuch aufgab, mit dem immer schneller werdenden Zug Schritt zu halten. Er konnte deutlich ihr Gesicht sehen, als sie zu ihm aufschaute – bleich, schwitzend, verzweifelt – und sich bemühte, seine Hand zu packen. Charlie fiel in diesem Augenblick ein, dass er früher einmal – irgendwann in der Zukunft? – Schwierigkeiten gehabt hatte, sich an Kathys Gesicht zu erinnern. Doch nun war es ein Teil seiner Welt, ebenso wirklich wie alles andere um ihn herum. Etwas, von dem er sich nicht vorstellen konnte, es jemals zu vergessen:
Kathy, fast noch ein Kind, schlicht gekleidet, verängstigt und nur ihm vertrauend…
Der Schlagstock eines der Polizisten traf seine Finger mit knochenbrechender Wucht. Es war die Hand, mit der Charlie sich an der Waggontür festhielt. Er ließ nicht los, vielmehr verlor er jedes Gefühl, und seine Hand gehorchte ihm einfach nicht mehr – so war es damals gewesen, und so war es auch jetzt.
Dennoch hatte er sich das letzte Mal gewehrt, hatte ihnen einen Kampf geliefert, von dem er annahm, dass er ihm auch nun wieder bevorstand.
Charlie landete hart auf dem Schlackenboden, nur wenige Zentimeter von den malmenden Rädern des Zuges entfernt, die sich donnernd drehten. Trotzdem konnte er noch Kathys Schreie hören…
Und dann schnitt plötzlich Stille wie ein scharfes Messer in das Tosen. Charlie lag wieder auf dem Operationstisch, und die selben Gesichter blickten auf ihn herab, einschließlich Kathys – nur dass es jetzt das von Dr. Flemyng war, noch immer mit jenem seltsam abgestumpften Ausdruck.
Unfähig, seine Verzweiflung und seine Verwirrung länger zu unterdrücken, stieß Charlie einen lauten Wutschrei aus und stürzte sich auf seinen Hauptpeiniger, auf den Mann, der behauptete, sein Name sei West.
42
Control folgte den beiden Wachmännern und wartete, bis einer von ihnen die schwere Stahltür aufgeschlossen hatte. Er nickte, um erneut zu bekräftigen, was er ihnen bereits gesagt hatte, nämlich dass er alleine hineingehen wollte. Dann betrat er die Zelle und wartete, bis die Tür hinter ihm wieder verriegelt worden war.
Die Zelle war von angemessener Größe, viel größer als eine Gefängniszelle, das heißt mindestens fünf Quadratmeter. Die Wände waren weiß gestrichen, es gab einen Tisch, einen Stuhl, ein Waschbecken, ein Klosett und, an einer der Wände angebracht, ein einzelnes Bett. Charlie, in Trainingsanzug und weißen Turnschuhen, saß auf dem Rand dieses Bettes, als die Tür sich öffnete. Er erhob sich, als er sah, wer der Besucher war.
»Guten Morgen, Charlie«, grüßte Control.
»Guten Morgen, Sir«, erwiderte Charlie förmlich.
»Setzen Sie sich, und entspannen Sie sich. Erzählen Sie mir, was vorgefallen ist.«
Während Control sprach, zog er sich den Stuhl heran und drehte ihn so, dass er Charlie, der sich bereits wieder auf die Bettkante gesetzt hatte, beobachten konnte.
»Wäre es nicht an der Zeit, dass Sie mir sagen, was hier vor sich geht?«, entgegnete Charlie mit einem Anflug von Widerspruchsgeist in der Stimme, den er sich Control gegenüber normalerweise nicht herausnahm.
Control musterte ihn aus halb geschlossenen Augen. Seine Mundwinkel zuckten, doch es war kein Lächeln, vielmehr nahm er damit Charlies Stimmung zur Kenntnis.
»Ich stelle die Fragen, Charlie, und Sie antworten. Ist das klar?«
Er wartete, verlangte nach einer Antwort, bevor er fortfahren würde.
»Jawohl, Sir«, murmelte Charlie gehorsam, wenn auch widerwillig.
»Man hat mir erzählt, dass Sie Dr. West
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