ePub: Ashes, Ashes
Lucy von Zimmer zu Zimmer gerannt, atemlos vor stoßartigen Schluchzern, die ihr die Brust zerreißen wollten, und sorgsam darauf bedacht, dass sie nicht zu viel sah – doch gleichzeitig gebannt vom verschossenen Morgenmantel ihrer Mutter, der noch an seinem Haken an der Schlafzimmertür hing, ihrem Schal, der noch auf ihrem Lieblingssessel lag, der Kaffeetasse ihres Vaters auf dem Abtropfregal in der Küche. Die meiste Zeit hatte sie im häuslichen Arbeitszimmer ihres Vaters verbracht und etwas gesucht, von dem sie selbst nicht wusste, was es sein sollte. Und während sie dem nachklingenden Duft seines Rasierwassers nachspürte, fand sie in der untersten Schublade seines Schreibtischs das Jagdmesser samt Scheide.
Lucy hatte das Messer eigentlich nicht zu ihrer Verteidigung mitgenommen. So sonderbar und unwirklich ihr damals auch alles vorgekommen war – eine physische Gefahrfür ihr Leben hatte sie nicht gesehen. Sie hatte das Messer zusammen mit dem Schal ihrer Mutter eingepackt, mit einem Paket verschiedener gefriergetrockneter Mahlzeiten und mit einer Flasche Mineralwasser. Es war so untypisch für ihren Vater, eine Waffe zu besitzen. Aktenkoffer, juristische Schriftsätze und dunkle, perfekt sitzende Anzüge passten eher zu ihm. Das Messer war wie ein Puzzleteilchen, über das man grübeln musste.
Außerdem hatte sie ihr Schul-Jahrbuch von der zehnten Klasse mitgenommen – obwohl sie die Schule gehasst und nie zu den Cliquen mit den beliebtesten Leuten gezählt hatte. Das Jahrbuch war ein vordergründiges Stück Highschool-Leben, welches das Qualvolle und Langweilige dieses Daseins vollkommen außer Acht ließ. Lucy konnte den Gedanken nicht unterdrücken, dass Aidan hundertprozentig an ihre Schule gepasst hätte – auch wenn sie zugeben musste, dass er anders war als die eitlen, hochnäsigen Typen, die in ihre Klasse gegangen waren.
Sie schlug das Jahrbuch auf. Die leeren Seiten vorn und hinten waren unberührt von den üblichen albernen »Hab einen wunderschönen Sommer!«-Grüßen. Im Inneren des Buches hatte Lucy die Fotos der aufgedonnerten, mit Haarspray und Lipgloss zurechtgemachten Mädchen mit dickem, schwarzem Stift bekritzelt, ihnen Punkfrisuren und Ringe um die Augen verpasst und Denkblasen mit Sätzen wie »Sehe ich gut aus?«.
Dass sie gestorben waren, hatte alles irgendwie verändert. Das Jahrbuch war ein Überbleibsel ihres früheren Lebens. Eserinnerte Lucy daran, dass irgendwann einmal alles normal gewesen war.
Mühsam schlug sie die Seiten um. Von der Feuchtigkeit waren sie aufgequollen und klebten aneinander. Der rote Buchdeckel hatte sich gewölbt. Lucy überblätterte die Fotos der Abschlussklasse, wo alle so posierten, als verkauften sie Armbanduhren. Auf diese Weise überschlug sie auch Madies offizielles Bild, auf dem ihre Schwester breit und glücklich grinste – im sicheren Bewusstsein, an einer der besten Unis des Landes angenommen zu werden. Und sie überblätterte Rob und die anderen Neuntklässler, die allesamt wie kleine Jungs aussahen und es für immer bleiben würden.
Sie kam zu den Fotos ihrer Klasse, überflog die Liste der Namen: Julie, Scott, Chad, Angie – alles Leute, die Lucy kaum wahrgenommen hatten, obwohl sie seit dem Kindergarten zusammen gewesen waren. In der Namensliste stand sie als beim Fototermin fehlend, dabei war Lucy an diesem Tag sehr wohl da gewesen. Es war wie ein schlechter Scherz, dass selbst die Lehrer ihre Existenz kaum bemerkt hatten. Lucy stand an der Wand, am Rand der letzten Reihe. Sie hatte die Schultern hochgezogen und das Haar fiel ihr ins blasse Gesicht. Wie ein bleicher Mond schwebte es über dem unerbittlichen Schwarz ihrer Klamotten, den Kampfstiefeln, der Jeans, dem T-Shirt und dem Reißverschluss-Kapuzenshirt.
Neben Lucy stand Chad, aber er drückte sich so weit weg, dass zwischen ihnen fast ein Meter Platz war. Wie hatte sie ihn gehasst! Er hatte immer so getan, als hätte sie eine ansteckende Krankheit oder so.
Lucy kaute auf ihrem Daumennagel und dachte daran, wie merkwürdig das Leben in jenem Frühjahr gewesen war. Infoblätter mit einer Auflistung der Krankheitssymptome waren aufgetaucht und klebten überall in der Schule. Und fast schien es, dass nahezu alle zur Schulkrankenschwester gingen und über Kopfschmerzen, Muskelkrämpfe und Fieber klagten. Ein paar Mädchen waren im Unterricht ohnmächtig geworden, aber Lucy hatte sich vollkommen normal gefühlt. Sie blätterte langsam weiter in ihrem Jahrbuch, überflog Fotos
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