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ePub: Ashes, Ashes

ePub: Ashes, Ashes

Titel: ePub: Ashes, Ashes
Autoren: Jo Treggiari
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sich zwar antrainiert, sie nicht zu beachten, aber mit einem Mal kam es ihr verrückt vor, dass sie von Kurs zu Kurs gegangen war, in ihrem Heft herumgekritzelt und nicht bemerkt hatte, wie viele Plätze leer blieben. Jedes Foto war auf dieselbe Weise unkenntlich gemacht worden, mit einem schwarzen Balken über den Augen. Und neben jedem Namen stand ein dickes, schwarzes »V«, zusammen mit denselben Krankheitssymptomen.
    Mit einem Mal musste Lucy so dringend aufs Klo, dass sie wie ein kleines Mädchen die Beine zusammenkniff. Immer weiter wühlte sie sich durch die Papiere, bis sie schließlich, fast am Ende des Stapels, auf eine Akte mit dem Namen »Lucy Holloway« stieß. Sie war dicker als alle anderen Akten. Bei ihrem Anblick spürte Lucy wieder den letzten Einstich in ihrem Arm. In den vergangenen Wochen hatte man ein regelrechtes Nadelkissen aus ihr gemacht! Ohne jegliche Erklärung. Es folgten einfach nur eine Unmenge Untersuchungen nach der ersten, bei der Mrs. Reynolds mit den Fingern über Lucys glatten Oberarm gestrichen und nach runzeligen Impfnarben gesucht hatte, die es aber nicht gab.
    »Meine Eltern hielten nichts davon«, hatte Lucy gemurmelt, als die Schwester sie gefragt hatte. Sie begann zu befürchten, dass irgendetwas mit ihr ganz und gar nicht in Ordnung war. Die Impfungen gehörten zu den ganz wenigen Ausnahmen,bei denen ihre sonst so ordentlichen Eltern von der Norm abgewichen waren. Lucy erinnerte sich, wie Madie ihr leise von ihrem älteren Bruder erzählt hatte, der mit knapp zwei Jahren an einer allergischen Reaktion nach einer Spritze gestorben war. »Danach sind Dad und Mom von New York hierher nach New Jersey gezogen, nach Sparta«, hatte Madie atemlos erklärt und dabei ganz große Augen bekommen. »Weil es dünner besiedelt ist und die Leute hier gesünder leben – da kommt es nicht so auf einen Impfschutz an.« Dann fuhr sie fort: »Alex’ Gesicht schwoll an wie ein Kürbis und seine Hände sahen aus wie grellrosa Ballons. Und dann ist seine Zunge ganz schwarz geworden.« Und obwohl Madie dies alles gar nicht wissen konnte, hatte Lucy von der Vorstellung jahrelang Albträume gehabt.
    Jetzt schlug sie ihre Akte vorsichtig auf, voller Angst, wieder auf den schwarzen Balken und das »V« zu stoßen – was dann allerdings heißen würde, dass dieser Buchstabe etwas anderes bedeutete als »Verstorben«. Und das wäre ja gut, oder? Ihr eigenes Gesicht blickte sie von ihrem Foto verschreckt an. Es war eine Kopie des Fotos von ihrem Schülerausweis, den sie eigentlich an ihrem Rucksack tragen sollte, was sie aber nie tat. Ihr dichter, gelockter Pony hing vollständig über ihr linkes Auge. Ihre Lippen waren zu einem schmalen Strich zusammengepresst, sodass sie fast nicht zu sehen waren. Aber es gab weder einen schwarzen Balken noch ein »V«.
    Lucy nahm ihre Akte und ging rückwärts zur Behandlungsliege zurück. Sie durchblätterte Seiten mit seltsamen Symbolen, Ziffernfolgen, Dezimalzahlen, Prozenten und Diagrammen.Viel zu viele Informationen über jemanden, der sich zwar häufig die Knie aufgeschlagen, Schnitte zugezogen und die Knochen gebrochen hatte – sich aber nie etwas Schlimmeres als eine Erkältung eingefangen hatte. Wenn man etwas über Lucy Holloway sagen konnte, dann, dass sie kaum Fehltage hatte.
    Lucy konnte sich keinen Reim auf diese wissenschaftlichen Angaben machen, und ihre Blase erforderte jetzt endgültig, dass sie etwas unternahm. Sie pinkelte in einen blauen Plastikbecher und entsorgte ihn – vorsichtig, ohne ihn umzukippen – im Behälter für biokontaminierte Abfälle, in dem sich gebrauchte Spritzen befanden. Er trug einen gelben Aufkleber mit einem schwarzen Totenkopf.
    Und dann war Mrs. Reynolds zurückgekommen. Das Drehen des Schlosses ließ Lucy gerade genügend Zeit, ihre Akte zurück in die Schublade zu stopfen und sich wieder auf die Untersuchungsliege zu schwingen. Die Schwester machte sich ein paar flüchtige Notizen und führte dann mehrere Telefonate, die ganze Heerscharen von Weißkitteln herbeiriefen. Ihre Gesichter hinter den Hygienemasken waren ausdruckslos, und die Kette von Untersuchungen hatte von vorn begonnen – bis endlich Lucys Vater aufgetaucht war. Wie ein Riese stand er im Türrahmen und schwang seinen Aktenkoffer, als wäre er eine Axt. Sein Gesicht war rot vor Zorn. Niemals hatte Lucy ihren Vater mit aufgeknöpften Manschetten gesehen, mit offener Krawatte und das sonst sorgfältig gekämmte Haar in alle Richtungen abstehend.
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