ePub: Ashes, Ashes
ihrem Rucksack mit sich trug –, und jetzt hätte sie sich am liebsten davongeschlichen. Sie konnte sich absolut nicht vorstellen, zu diesen Menschen hinunterzusteigen. Wie sie sich kannte, würde sie wahrscheinlich straucheln und hinfallen. Das Stimmengewirr schmerzte sie geradezu in den Ohren. Sie war sich auch gar nicht sicher, ob sie noch wusste, wie man ein Gespräch begann. »Hallo«, sagte sie probeweise und ihre Stimme klang brüchig.
Andererseits gab es dort unten Wasser, und was immer es sein mochte, das da auf dem Feuer kochte, es roch gut. Früher oder später würde es Nacht werden, und der Gedanke, irgendwo hier draußen schlafen zu müssen, war entmutigend. Wenn sie ihren Weg durch die Siedlung abkürzte, käme sie etwas weiter nördlich zur George-Washington-Brücke – sofern sie weiterlaufen wollte. Natürlich konnte sie auch den Weg zurück nehmen, den sie gekommen war, noch einmal über die Hängebrücke und dann ein paar Meilen außen herum. Aber dieser Gedanke war unerträglich.
Lucy stand auf, klopfte sich den Schmutz von den Kleidern und fuhr sich mit den Händen durchs Haar. Die Feuchtigkeit hatte es in die wilde Mähne aus Korkenzieherlocken verwandelte, die sie so hasste. Sie spuckte auf ihre Fingerkuppen und strich damit über den Kopf – aber das machte die Sache auch nicht besser. Sie zog die Augenbrauen zusammen. Was für ein Unsinn! Sie kam doch allein zurecht! Da unten war niemand, dessen Meinung ihr irgendwie wichtig war. Sie drückte die Schultern durch, schob den Rucksack gerade, tastete kurz nach ihrem Messer und sah sich noch einmal um.
Im selben Moment erstarrte sie. Von Süden näherte sich eine Staubwolke. Die Wolke bewegte sich dicht über den Asphalt, mal schneller, mal langsamer. Sie löste sich ein wenig auf, und nun konnte Lucy eine Reihe Vans erkennen, die in Richtung des Platzes fuhren. Vier weiße Fahrzeuge, ähnlich wie Lieferwagen, aber ohne Aufschrift. Dieselbe Sorte Vans, die Lucy zwei Monate nach Ausbruch der Epidemie durch ihr Wohnviertel hatte patrouillieren sehen, deren Besatzung nach Kranken und Toten gefahndet und die Leute aus ihren Häusern geholt hatten. »Sweeper« hatten die Nachrichtenmoderatoren sie genannt: die, die sauber machten. Lucys Blick schoss zu der wimmelnden Menge. Ihr fiel wieder ein, was Aidan gesagt hatte: dass die Sweeper jetzt Jagd auf die Überlebenden machten. Eine so schlimme Furcht übermannte Lucy, dass sich ihr Magen zusammenkrampfte. Sie war zu hoch über der Menge und die Wagen näherten sich schnell. Wie konnte sie die anderen warnen?
Lucy winkte mit den Armen. Keiner bemerkte sie, nicht mal, als sie auf und nieder sprang. Sie hätte rufen können, aber in dem Stimmengewirr dort unten hätte sie niemand gehört. Sie musste ein völlig unerwartetes Geräusch machen, etwas, das über den ganzen Platz schallte. Sie kniff die Lippen zusammen. Pfeifen! Lucy konnte gut pfeifen. Sie hatte sich das selbst beigebracht, um Madie zu nerven. Aber ihr Hals war zu trocken und ihre Zunge fühlte sich dick an. Pfeifen ging nicht. Dann kam ihr eine andere Idee: Sie atmete tief ein und stieß ein Wolfsheulen aus, ein lang gezogenes Jaulen, das die Luft wie ein Messer durchschnitt.
6. KAPITEL
Der Warnlaut hallte über den Platz. Die Menschen unten schreckten auf, hielten kurz inne, dann setzte sich das Stimmengewirr fort. Lachen war zu hören und aufgeregtes Schwatzen, als wäre das Jaulen nur ein Scherz gewesen. Ein paar Köpfe wandten sich in Lucys Richtung und suchten nach dem Ursprung des Geheuls. Mit einem Mal schrie jemand auf. Lucy hörte Rufe: »Die Sweeper kommen!«, und ein Dutzend Arme deuteten auf die rasch herannahenden Vans, die kaum noch dreihundert Meter entfernt waren – so nah, dass Lucy die Drehzahl der Motoren hören und den beißenden Gestank des Benzins riechen konnte. Sie fuhren in einer Reihe hintereinander und ihre Abgase und der Staub der Straße wirbelten hinter ihnen her.
Plötzlich – als hätte jemand in einen Ameisenhügel gestochen – liefen die Menschen in alle Richtungen auseinander, versuchten, zu den Fußpfaden zu gelangen und sich in die Hütten zu retten. Es war, als ob alles schrie. Kinder verschwanden unter Planen und in Zelten. Rundum herrschte ein einziges Chaos, und gleichzeitig schien alles geübt abzulaufen. Lucy hatte Aidan in diesem Tumult aus den Augenverloren. Auf dem Boden hockend, lehnte sie sich ein Stück vor. Ihre Augen wanderten über die Menge, suchten sein leuchtendes
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