ePub: Ashes, Ashes
auf ihrem Daumennagel herumkauen: ein ehemaliger Highway, der durch das mächtige Erdbeben vor drei Jahren, welches das Empire State Building zum Einsturz gebracht und den größten Teil der Midtown in Schutt und Asche gelegt hatte, in eine Aneinanderreihung von Betonbergen verwandelt worden war. Von Geröll übersät, fiel die Straße stellenweise vier Meter tief ab, um sich an anderen Stellen wieder sechs Meter in die Höhe zu erheben. Der Beton war aufgebrochen und mit Unkraut bewachsen. Löwenzahn reckte seinen Kopf aus jeder Spalte.
Löwenzahn hatte Lucy immer gern gemocht. Er hatte für sie etwas Unabhängiges. Er wuchs, wo immer es ihm passte, und er kam immer wieder nach, egal, wie oft ihre Mutter ihn ausstach. Lucy machte sich auf den Weg zur ersten Schlucht.
5. KAPITEL
Lucy wischte sich über den Mund. Nach drei Stunden, in denen sie ununterbrochen gewandert und geklettert war, in Schluchten hinein und wieder heraus, und dabei ernsthafte körperliche Verletzungen riskiert hatte, hatte sie eine Pfütze mit Regenwasser gefunden. Das Wasser schmeckte nach Asphalt, war aber nicht allzu sandig. Doch nun bekam sie Magenkrämpfe, und ihr fiel auf, wie hungrig sie war. Die Sonne wanderte immer höher den Himmel hinauf. Sie war riesengroß und eher orangefarben als gelb. Lucy schätzte, dass es bald Mittag sein musste. Vor Einbruch der Dunkelheit wollte sie dieses Gebirge hinter sich gebracht haben. Ohne Baumkronen über dem Kopf fühlte sie sich schutzlos und verletzlich. Und auch wenn der Himmel wolkenlos war – Lucy wusste, mit welch unerwarteter Schnelligkeit schlimme Stürme hereinbrechen konnten.
Der Tag war schwül und drückend geworden, als hätte der Tsunami mit den Bäumen auch einen beträchtlichen Teil Sauerstoff mitgenommen. Haarsträhnen hingen Lucy schlaff in die Augen, und als sie sie zur Seite strich, stellte sie fest, dass sich ihr Haar gekräuselt hatte. Wenn sie nur einen Gummigehabt hätte, um es zurückzubinden! Aber Lucy besaß nichts dergleichen. Sie griff nach ihrem Messer und strich mit dem Daumen über den glatten Griff. Mit dem Messer könnte sie sich ihren Schopf kurz über dem Nacken absäbeln, aber dann hätte sie in ein oder zwei Monaten dasselbe Problem wieder. Und in der Zwischenzeit würde sie aussehen wie ein Freak – oder wie ein Junge. Sie konnte sich nicht entscheiden, was sie schlimmer fand. Sie war sich nur ganz sicher, dass sie vor Aidan nicht wie eine Verrückte aussehen wollte.
Der Gedanke an Aidan war ihr unbehaglich und Lucy schob ihn beiseite. Es ging ihr ja nicht darum, Aidan wiederzusehen. Sie wollte sich nur etwas zu essen besorgen, Rast machen und darüber nachdenken, wo sie von nun an leben wollte. Aidan befand sich einfach dort, wo Menschen waren und wo es etwas zu essen gab, das war alles. Sie tauchte ihre Hände unter, schöpfte noch etwas von dem lauwarmen Wasser und ließ es sich über Kopf und Nacken rinnen. Dann versuchte sie ihr Haar so gut es ging zu glätten. Ein paar Hundert Meter weit verlief die Straße eben. Dahinter fiel sie jäh wieder ab – wie tief, wusste Lucy nicht. Sie wanderte weiter, sorgsam auf loses Gestein achtend. Hier und da war der geborstene Asphalt mit einer weißen Linie bemalt – allerdings verlief sie nicht mehr geradeaus. Sie schwenkte von der Mitte ab, machte plötzlich einen Bogen zur Seite und verschwand unvermittelt.
Lucys Schätzung nach musste sie sich ungefähr auf der Höhe der Second Avenue und der 92sten Straße befinden. Allerdings waren durch das große Erdbeben hektarweise Straßen und Erde bewegt worden, was die Landschaft völligverändert hatte. Manchmal fand Lucy, es sah aus, als hätte ein kleines Kind eine Stadt aus Bauklötzen gebaut und sie dann in einem Wutanfall komplett eingerissen.
Lucy war an eine Schlucht gelangt, die so breit wie ein Canyon war. Sie fiel rund zwölf Meter ab und stieg etwa die gleiche Höhe wieder hinauf, allerdings nicht eben, sondern in einer Reihe von Gräben, die wie die Fußspuren eines Riesen aussahen. Einen Weg darum herum gab es nicht, der Canyon erstreckte sich über die gesamte Breite des Asphaltgebirges. Als Lucy sich schließlich den letzten steilen Anstieg emporgekämpft und sich dabei die Knie aufgeschürfte hatte, fand sie sich auf einem Plateau wieder. Zu ihren Füßen lag eine breite, tiefe Schlucht, über die sich eine lächerlich feingliedrige Hängebrücke zog. Obwohl kein Wind wehte, schwang sie sanft hin und her. Dies musste der Große Kanal
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