ePub: Drachenhaut (German Edition)
freundliches Lachen. »Er wäre heute genau wie sein Vater und seine Brüder«, sagte er kalt. »Ein Jäger und gnadenloser Mörder. Es trifft nicht den Falschen, Lilya, glaube mir.«
Sie schüttelte den Kopf. »Das stimmt nicht. Ich habe ihn kennengelernt. Er hat mich nicht gefressen, obwohl ihn das von seinem Fluch erlöst hätte. Wenn er so wäre, wie du sagst, dann hätte er keine Sekunde gezögert, mich zu töten.«
Der Drache schwieg. Sein Blick ruhte lange und nachdenklich auf Lilya, die sich dem hypnotischen Sog der opalisierenden Augen nicht entziehen konnte. In ihrem Kopf summten fremde Stimmen und Klänge und Töne, die ihr unheimlich erschienen. Bilder leuchteten auf und vergingen wie Sternschnuppen: Orte, Menschen, Wesen, die sie niemals zuvor zu Gesicht bekommen hatte. Sie tastete nach Tedus und klammerte sich Halt suchend an den Arm der Frau, die ihre Tante war.
»Geht«, dröhnte die Stimme des Drachen. »Tedus, Aghilas, ich möchte, dass ihr geht. Ich werde Lilya hierbehalten. Sie ist ab jetzt meine Schülerin.«
Tedus fuhr auf: »Drache, wäre es nicht besser, wenn ich ...«
»Nein!«, donnerte der Drache. »Sie zu unterrichten, übersteigt deine Fähigkeiten, Tochter!«
Tedus hob den Kopf und erwiderte furchtlos den flammenden Blick des Drachen. »Ich werde sie dennoch mit mir nehmen«, wagte sie zu widersprechen. »Sie ist erschöpft von der Reise ‒ wie auch ich es bin. Sie braucht Nahrung und Schlaf. Das ist etwas, was du möglicherweise nicht verstehst, mein König!«
Lilya hielt die Luft an. Der Drache stieß zischend einen Funkenschauer durch seine Nüstern. Die Funken stachen auf Lilyas Haut wie spitze, heiße Nadeln und es roch nach versengtem Haar.
»Tollkühn«, grollte der Drache. »Du bist genauso frech wie deine Nichte, Tochter. Geht also. Ruht euch aus. Ich erwarte Lilya morgen Abend im Thronsaal. Und jetzt verschwindet!«
Schlagartig war es dunkel. Große Schwingen rauschten, ein heftiger Windstoß drückte Lilya zu Boden.
In der Dunkelheit neben ihr leuchtete ein Zeichen auf. Gelbes Licht ergoss sich über den Boden und die nähere Umgebung. In der Finsternis schwamm Tedus’ Gesicht wie eine Maske ohne Körper. »Gehen wir, ehe er böse wird«, sagte die Wüstenfrau. Ihre Stimme klang erschöpft. Sie reichte Lilya die Hand, half ihr auf und sah sich um. »Wo ist Aghilas?« Aber der Leopard war lautlos in der Dunkelheit verschwunden.
W IEDERSEHEN
Es war tiefe Nacht, als sie in ihr Quartier zurückkehrten. Feuer brannten auf dem kleinen Platz, beinahe so wie in ihrem Dorf. Auch in den benachbarten Vierteln schimmerten Lichter, bewegten sich Menschen und erklangen Geräusche ‒ anscheinend waren an diesem Abend noch weitere Karawanen in der Zuflucht eingetroffen.
Lilya und Tedus waren den ganzen Weg von der Königsburg hinunter in ihr neues Quartier schweigend nebeneinander hergegangen, in Gedanken vertieft, die sie der anderen nicht mitteilen mochten. Von Zeit zu Zeit warf Lilya ihrer Tante einen fragenden, prüfenden Blick zu, und sie spürte, wie Tedus das Gleiche tat.
»Lilya«, sagte die Wüstenfrau, als sie das Viertel erreichten, in dem sie nun einen Winter lang leben würden, »ich weiß nicht, was ich denken soll.« In ihrer Stimme konnte Lilya ungeweinte Tränen hören, und sie selbst drückte ein Kloß im Hals, der salzig schmeckte. Sie hatte schon so lange nicht mehr an ihre Eltern gedacht, aber die Worte des Drachenkönigs hatten Erinnerungen lebendig werden lassen, die so schmerzhaft waren, als wären sie noch frisch.
»Ich auch nicht«, erwiderte sie deshalb schroffer, als sie beabsichtigt hatte. »Lass uns morgen reden, Tedus. Heute nicht mehr.«
Tedus nickte schweigend. Die Worte schienen sie verletzt zu haben, und deshalb streckte Lilya die Hand aus und zwang sich zu einem Lächeln. »Ich bin müde«, sagte sie. »Das alles war sehr aufwühlend und hat dunkle Erinnerungen geweckt. Du bist mir nicht böse, Tante?« Die bewusst gewählte Anrede ließ alle Härte aus dem Gesicht der Wüstenfrau schwinden. Tedus beugte sich vor und umarmte Lilya herzlich. »Ich bin nicht böse«, sagte sie. »Und bei aller Trauer um meine Schwester ‒ ich freue mich, dass du schließlich den Weg zu uns gefunden hast!«
Lilya nickte und hob die Schultern. Freude war nicht das richtige Wort. Verwirrung. Das diffuse Gefühl, gefangen zu sein ‒ immer noch. Die Wüste war nicht ihre Heimat und Mohor war es nicht mehr. Aber diese Zuflucht beherbergte ihre Familie ‒ mehr
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