ePub: Drachenhaut (German Edition)
vierten Tag ihrer Reise über die Steppe trabten. Die Wüste mit ihrem Sand und ihren Steinen lag fürs Erste hinter ihnen, sie würden sie erst in ein paar Tagen wieder betreten, wenn der letzte Abschnitt ihrer Reise zum Dorf vor ihnen lag.
»Ist es ein großer Umweg?«, fragte Lilya.
»Zwei Tage«, erwiderte Aghilas. »Vielleicht drei, wenn wir unsere Kräfte ein wenig mehr schonen möchten. Hast du es eilig?«
Lilya dachte nach. Ihre Gedanken begannen sich katzenartig zu benehmen.
Eile. Zeit. Ein Ziel. Alles seltsame Begriffe, mit denen sie kaum noch konkrete Bilder zu verbinden vermochte. Konkrete Bilder: Die Sonne, die glühend rot über dem Grasland unterging. Eine Gazelle, die sich mit hohen Sprüngen in Sicherheit brachte. Der Geruch des trockenen Grases. Aghilas, der im Schleichlauf einen Hasen verfolgte, den Bauch so dicht über dem Boden, dass er das Gras niederdrückte. Die Freude, sich im Staub zu wälzen, um all diese kleinen, lästigen Tierchen loszuwerden. Der süße Geschmack von Wasser und das angenehm salzige Aroma von Blut. Aghilas raue Zunge, die die unzugänglichen Stellen an ihrem Kopf leckte.
Sie gähnte maunzend. »Keine Eile. Ich möchte gerne dein Rudel kennenlernen.«
Aghilas freute sich, sie sah es ihm an. Aber er antwortete nur gleichmütig: »Gut«, und lief weiter.
Lilya bemerkte sie nicht sofort. Sie gab sich gerade wieder der puren Freude am Laufen hin, ließ eine Vielzahl von fremden, interessanten Aromen und Gerüchen durch das halb geöffnete Maul über ihre Zunge strömen, genoss das weiche Federn des Bodens unter ihren Füßen und wandte den Kopf, um Aghilas etwas zuzurufen, da blickte sie in die schräg stehenden, bernsteinfarbenen Augen eines fremden Leoparden.
Sie stoppte abrupt, wobei ihre Krallen tiefe Furchen in den Boden zogen, wollte zur Seite ausweichen und prallte dabei gegen eine Leopardin, die ein erschrecktes Fauchen hören ließ und die Ohren anlegte, wobei ihre Augen Lilya warnend anblitzten.
»Udad«, hörte sie Aghilas rufen. »Ittû. Das ist Lilya, meine Schwester!«
Der große Leopard, der schon zum Sprung bereit vor ihr kauerte, entspannte seine Haltung und richtete sich auf. Seine Augen öffneten sich weit. »Lilya?«, sagte er mit samtweicher Stimme. »Du hast mir nie erzählt, dass du eine Schwester hast, Aghilas.«
Lilya fuhr ein Schauder übers Fell, als sie seine Stimme hörte. Ihre Blicke tauchten ineinander und verschränkten sich wie Finger. Vertraut. Heimat. Freude.
Dann riss die Verbindung, beide sahen sich um, denn die zierliche Leopardin hatte Lilya den Rücken gekehrt und stürmte auf Aghilas zu. Die beiden rollten übereinander und bissen sich spielerisch in den Nacken und die Seite.
Udad, der Leopardenmann, hockte sich neben Lilya und grinste mit heraushängender Zunge. Sie wusste, dass er so ihre Witterung aufnahm. »Sind die beiden nicht romantisch?«, sagte er und blinzelte. Lilya grinste zurück.
»Bleibst du bei uns?« Er wartete ihre Antwort nicht ab, sondern hob den Kopf und rief: »Aghilas. Bleibt deine hübsche Schwester bei uns? Und ist sie noch zu haben?«
»Finger weg, Udad«, antwortete Aghilas kurzatmig. Er ließ von der Balgerei mit der Leopardin ab und trottete zu Lilya zurück. »Wir sind zu Hause«, sagte er. »Wie du vielleicht bemerkt hast. Willkommen in meinem Revier.«
Der Sommer ging langsam und träge vorüber. Gelegentlich zog das Rudel auf eine gemeinsame Jagd, aber meistens waren einzelne Mitglieder unterwegs und brachten ihre Beute mit, um sie mit den anderen zu teilen.
»Unsere Brüder, die keine Rakshasa sind, leben nicht wie wir in Familien zusammen«, erklärte Udad ihr an einem heißen Nachmittag, den sie dösend im Schatten einer Akazie verbrachten. Sein Schwanz schlug träge, um die fliegenden Plagegeister zu vertreiben, die auf seinem glatten Fell zu landen versuchten.
Lilya drehte sich auf den Rücken, um ihm ins Gesicht zu sehen. Seine bernsteinfarbenen Augen hatten die Tiefe des Abendhimmels und sie konnte sich in ihnen gespiegelt sehen. Sie sah ihn voller Zuneigung an. Sie liebte seine schönen Augen und das seidenweiche Fell, seinen Geruch nach Moschus und Sonnenlicht, seine Stärke, seine unerschöpfliche Energie. An seinerSeite war auch sie stark und schön, ohne Makel und ohne Sorgen. Im Rudel fühlte sie sich so geborgen wie noch nie zuvor. Die Erinnerung an ihre Vergangenheit tauchte zwar gelegentlich auf wie ein dunkler, schwerer Schatten aus der Tiefe, aber Udad vertrieb die
Weitere Kostenlose Bücher