ePub: Drachenhaut (German Edition)
hindurchschlüpfen werden.«
Lilya erwiderte das Grinsen mit einem besorgten Lächeln. »Dort wird demnach reger Verkehr herrschen«, gab sie zu bedenken.
Yani zuckte die Achseln. »Niemand sieht dich genauer an, weil niemand genauer angesehen werden möchte. Außerdem gibt es Zeiten, zu denen sich dort keine Menschenseele aufhält.«
Lilya war nicht beruhigt. »Wenn das Serail sonst schwer bewacht ist, wieso lassen sie dann eine solche Lücke zu?«, fragte sie. »Noch dazu, wenn doch anscheinend jeder weiß, dass sie existiert ...«
»Dieser Eingang ist das bestgehütete Geheimnis des Serails«, erwiderte Yani. »Es hat mich einige schrecklich lange, langweilige Nächte mit einem Schreibgehilfen gekostet, um es herauszufinden.«
»Yani«, sagte Lilya schockiert, »was hast du mit diesem armen Gehilfen angestellt?«
Der junge Mann grinste. »Gesoffen und Karten gespielt«, sagte er. »Was denkst du denn?«
Udad lachte und Lilya stimmte ein. »Also gut«, sagte sie, »wenn du unter Einsatz deines Lebens dieses wohlgehütete Geheimnis gelüftet hast, dann lass uns davon profitieren.«
Sie gingen schweigend weiter. Der Abend sank herab, die Sonne ging hinter den Dächern der Stadt unter und tauchte sie in rotgoldenes Feuer. Die Kuppeln des Serails glänzten wie flüssiges Gold. Lilya hörte den Fluss und roch das brackige Wasser, ehe sie seine träge fließenden, schlammigen Fluten sehen konnte. Frösche quakten, ein Silberreiher streifte tief über das Wasser und landete irgendwo im hohen Schilf.
Neben dem Trampelpfad wuchs die äußerste Palastmauer aus dem Boden und ragte hoch über ihre Köpfe.
»Dort hinten ist ein Küchenausgang zum Fluss«, zeigte Yani. Er flüsterte instinktiv. »Und weiter unten, kurz hinter dem Küchengarten, ist der Durchschlupf.«
Sie gingen unwillkürlich schneller. Niemand war in ihrer Nähe. Eine Grille sang eintönig ihr Lied, die Hitze des Tages hing schwer über dem Fluss und seinem Ufer.
Dann sah Lilya, worauf Yani gezeigt hatte. An der Mauer entlang wucherten auf dieser Seite übermannshoch staubiges Gestrüpp und vertrocknende Kletterranken, kleine Bäume und stachlig wucherndes Brombeergebüsch. Aber eine Stelle war dünner bewachsen, und dort schien die Mauer ein wenig eingesunken zu sein. »Dort?«, fragte Lilya und Yani nickte.
Immer noch war niemand zu sehen oder zu hören. Lilya wünschte sich die schärferen Sinne der Rakshasa, und im gleichen Augenblick sah sie, wie Udad sich verwandelte. Seine Tasthaare zitterten und er drehte lauschend die Ohren. Dann gab er ein Zeichen: Sie waren unbeobachtet.
Nacheinander schoben sie sich durch die Büsche und durch ein Loch in der Mauer. Es war wirklich nicht ohne Weiteres zu erkennen, selbst wenn man davorstand. Aber Yani kroch ohnezu zögern hindurch und Lilya und Udad folgten ihm. Lilya widerstand dem Impuls, sich ebenfalls zu verwandeln. Yani war derjenige, der sich auf dem Gelände des Serails am besten auskannte, obwohl Lilya einige Wochen dort gelebt hatte. Aber sie hatte sich nur in einem engen Umkreis um den dritten Hof bewegt, und nun mussten sie ihren Weg durch sämtliche Höfe bis zu den Gemächern des Kronprinzen finden. Jetzt erst erkannte Lilya wirklich, was für eine unlösbare Aufgabe sie sich und ihren beiden Begleitern gestellt hatte. Sie fröstelte trotz der Hitze.
»Ihr solltet mich alleine gehen lassen«, sagte sie entschlossen. »Wartet hier auf mich. Ich suche den Prinzen, und wenn es mir gelingt ...«
»Nein«, sagte Udad, der sich bei ihren Worten wieder in einen Menschen verwandelt hatte. »Ich bin an deiner Seite. Aghilas reißt mir den Kopf ab, wenn ich dich jetzt im Stich lasse.«
»Überlass Aghilas mir«, erwiderte Lilya verstimmt.
Udad schüttelte störrisch den Kopf. »Auch ohne seine Anweisungen würde ich dich jetzt nicht alleine gehen lassen. Du brauchst mich, wenn dein Prinz Schwierigkeiten macht.«
»Und mich, damit sich jemand um lästige Wachen oder Diener kümmern kann«, sagte Yani nicht weniger bestimmt. Er lockerte den Dolch an seinem Gürtel. »Keine langen Diskussionen. Sobald der Mond aufsteigt, wird es hier deutlich belebter.«
Sie liefen über einen gepflasterten Weg, der durch einen Nutzgarten führte. Das musste besagter Küchengarten sein, und der Gebäudeteil, auf den sie zugingen, war einer der Wirtschaftsflügel. Lilya versuchte sich zu orientieren. Vom Fluss aus gesehen lag der Palastgarten, in dem sie sich immer aufgehalten hatte, hinter diesem Gebäudeteil.
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