ePub: Drachenhaut (German Edition)
sah ihn teilnahmsvoll an. Er war dem Prinzen näher als die meisten anderen Höflinge, und er war der Einzige, der es wagte, die Einsamkeit des jungen Mannes zu teilen, wenn er während der Zeit des wachsenden Mondes in seine Gemächer gesperrt war wie ein wildes Tier.
»Hat auch der Beg nichts ausrichten können?«, fragte er.
Der Prinz schüttelte den Kopf. »Er hat mehr Verstand zwischen den Ohren als alle Magiya meines Vaters zusammen, aber er war ratlos. Nun hat er mich in der zweiten Mondhälfte untersucht ...« Amayyas lachte. »Ich muss ihm zugutehalten, dass er mich nicht ungebührlich angestarrt hat. Er versprach, zum wachsenden Mond noch einmal wiederzukommen.«
»Mutig«, murmelte der Erzieher.
Der Prinz zuckte die Achseln. »Du bist auch immer bei mir«, erwiderte er.
Der Eunuch nickte gleichmütig. »Ich kenne dich besser als jeder andere ‒ und du bist an meine Gegenwart gewöhnt. Aber ich weiß nicht, ob du dich beherrschen kannst, wenn ein Fremder sich dir nähert.«
Amayyas wandte den Blick ab. »Ich auch nicht, Aspantaman. Aber wir werden Vorkehrungen treffen. Ketten. Vielleicht einen Käfig.«
Der Eunuch zuckte mit den Lidern. »Das würdest du auf dich nehmen?«
»Für den winzigen Funken Hoffnung ‒ ja.« Der Prinz hob den Kopf und straffte die Schultern. »Nun lass uns nicht länger Trübsal blasen. Heute ist der Tag der Tage. Ich verspüre Lust, in die Stadt zu gehen.«
Der Eunuch verneigte sich. »Es ist alles für einen Ausflug vorbereitet, mein Prinz. Ich dachte mir, dass du hinauswillst.«
Amayyas lachte und schlug dem Eunuchen auf die Schulter. »Wie beim letzten Mal, Aspantaman, hörst du? Keine Hofschranzen, nur du und ich.«
»Nur wir beide, mein Prinz.« Der Eunuch verneigte sich wieder und verließ lautlos den Raum.
S CHLANGENTRAUM
»Halt still, mein Sonnenstäubchen.« Ajja knöpfte und schlang Bänder zu Schleifen, zupfte und bürstete an Lilya herum, die von einem Bein aufs andere trat und »Nun ist es doch gut« sagte, »Ich bin vollständig angezogen, Ajja«, »Nun lass uns doch endlich gehen, sonst ist der Tag vorbei« und vor Ungeduld beinahe zersprang.
Endlich beendete das Kindermädchen sein Werk, trat zurück, musterte Lilya mit schief gelegtem Kopf und bedenklicher Miene, trat noch einmal hinzu, um Lilyas Schleier zu richten, und nickte dann. »So bist du hübsch, meine Taube.«
Lilya war schon an der Tür, als die Amme noch sprach. »Nun beweg dich, Ajja«, rief sie. »Ich sterbe vor Ungeduld!«
Aber dann dauerte es erneut eine halbe Ewigkeit, bis die Träger gerufen, die Sänfte herbeigeholt und alles zu Ajjas Zufriedenheit gerichtet und geordnet war.
Lilya nahm in der Sänfte Platz, die sich sodann schwankend in die Luft erhob und schaukelnd in Bewegung setzte. Die beiden dunkelhäutigen, muskulösen Sänftenträger waren Zungenlose, erkannte Lilya mit Schaudern. Sie mochte die stummen Sklaven nicht. Aber ihr Großvater schätzte ihre Dienste ‒ sie klatschtennicht, und da sie weder lesen noch schreiben konnten, war ihre Diskretion unumstößlich. Der starke Zorhez schritt der Sänfte voraus und verscheuchte alle, die ihr in den Weg laufen wollten, und der dicke Teto schnaufte hinter ihnen her und schwatzte mit Ajja.
»Ajja«, Lilya lehnte sich zum Fenster der Sänfte und rief ihre Amme an ihre Seite, »du kennst dich besser aus auf dem Basar. Wo sollen wir beginnen?«
»Wenn wir im Seidenquartier beginnen, können wir danach eine kleine Pause im Kaffeehaus deines Onkels Javidan machen. Dein Großvater hat es erlaubt.«
Lilya blickte aus dem Fenster. So selten, wie sie das Haus verließ, war es jedes Mal eine neue, aufregende Welt, die sie betrat, wenn es in die Stadt ging. Sie durchquerten enge, stickige Gassen voller Menschen. Bunte Sonnensegel spannten sich von Haus zu Haus über die Straße und ließen die Schatten in allen Farben schimmern. Aus den Türöffnungen erklangen Stimmen, Gesang, Gelächter, Geschrei. Kinder weinten, Hunde bellten, hier und da krähte ein Hahn, schrie ein Esel oder meckerte eine Ziege. Es roch nach gekochtem Fisch, süßem Reis und Teigfladen, faulendem Obst und Hundekot, Schweiß und Abfällen. Fliegen summten einen lauten Grundton zu all den anderen Geräuschen wie Topfklappern und Messerklirren, polternden Karrenrädern und dem Klappern von Hufen, dem dumpfen Klopfen und Hämmern, das aus einer Werkstatt drang, und darüber den schrillen Rufen eines Wasserverkäufers.
Lilya lehnte sich in der stickigen Sänfte
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