ePub: Drachenhaut (German Edition)
Beg sie festgebunden? Sie wusste es nicht, und das machte ihr Angst.
Sie musste wieder an Yani denken. Ob es ihm gut ging? Sie vermisste ihn. Mit ihm hätte sie über das reden können, was mit ihr geschah. Er hätte sie zum Lachen gebracht, und dann wäre alles schon nicht mehr so schlimm gewesen.
Seelenbruder, dachte sie. Seit ich hier bin, kann ich dich nicht mehr spüren. Es ist, als wäre ich plötzlich ganz allein. Ich fürchte mich. Was geschieht mit mir? Die Zeichnungen werden mit jedem Tag, der sich dem Dunkelmond nähert, deutlicher. Ich weiß, dass es mit dem Mond zusammenhängt, weil ich fühlen kann, wie sein Licht auf meiner Haut kribbelt. Nachts, wenn seine schmale Sichel durch das Fenster scheint, klammere ich meinen Blick an ihm fest wie an einem Freund. Er hält mich, wenn Großvater an meinem Geist zerrt wie ein hungriger Wolf an einem Stück Fleisch.
Seelenbruder, ich brauche dich. Ich weiß, dass du nicht der Schlangengott bist, der sich in meine Träume stiehlt wie ein Dieb. Er lügt. Er will, dass ich für ihn tanze. Jeder will, dass ich für ihn tanze. Der Naga, mein Großvater ‒ der Shâya? Er hat uns ein zweites Mal empfangen, und ich habe seinen Blick gespürt, der bohrend war, saugend, fordernd. Er will etwas von mir, aber ich weiß nicht, was es sein könnte. Er spricht nicht mit mir, nur mit meinem Großvater.
Ihre Gedanken verloren sich. Sie musste an den Erzieher des unglücklichen Prinzen denken. Er war freundlich zu ihr gewesen, aber auch er hatte gewollt, dass sie tanzte ‒ für den Prinzen.
Lilya seufzte und stand auf. Ihr Blick irrte wieder zum Himmel. Noch stand die Sonne hoch, noch war Nachmittag. Sie sollte sich diese wenigen Stunden bis zum Abend nicht dadurch verderben, dass sie an Unangenehmes dachte.
Sie schlenderte an dem künstlichen kleinen Bachlauf entlang, der über glatt polierte Steine zu einem der vielen Teiche hinunterplätscherte. Dort unten war es schattig, und weil ihr heiß geworden war, lockte sie der Gedanke, die Füße in das kühle Wasser zu tauchen.
Es gab einen Platz unter den tief hängenden Zweigen eines Baumes, der ihr auf einem ihrer Rundgänge aufgefallen war. Er hatte so friedlich und still ausgesehen. Sie sehnte sich nach Stille und Frieden mehr als nach allem anderen; nach süßer, klarer Luft und dem sanften Geräusch, mit dem das Wasser gegen die Ufersteine gluckste.
Sie lief die letzten Meter zum Teich hinunter und prallte gegen eine große Gestalt, die reglos neben dem Baum stand. Er hielt sie fest, als sie ins Taumeln kam, und bewahrte sie davor, der Länge nach ins Wasser zu fallen.
»Du kommst gerade recht«, sagte der Obersteunuch und ließ sie los. »Der Prinz erwartet dich schon.«
Lilya schnappte nach Luft. Sie dachte, Aspantaman würde sie nun zum Serail zurückgeleiten, aber der Eunuch nickte ihr lächelnd zu und deutete auf jemanden, der mit ihm am Ufer des Teiches gestanden hatte und nun zu ihr hinsah.
Lilya erkannte den jungen Mann nicht sofort, aber plötzlichbegann ihr Auge zu brennen, als wäre etwas hineingeflogen. Durch den Tränenschleier, der sich vor ihren Blick legte, sah sie einen großen, schwarzen Panther am Wasser stehen. Sein Kopf war stolz erhoben, seine gelben Augen fixierten sie, sein Schwanz peitschte nervös hin und her.
Lilya sagte »Ah« und tat staunend und ohne Angst einige Schritte auf die große Katze zu. »Du bist es. Amayyas, der Junge aus dem Basar.«
Und während sich ihr Blick erneut klärte und sie den jungen Mann mit den schwarzen Haaren vor sich stehen sah, begann sie zu begreifen, obwohl sie nichts verstand.
Der Prinz sah über ihren Kopf hinweg den Obersteunuchen an. »Das ist sie?«, fragte er.
»Das ist Lilya Banu«, bestätigte Aspantaman. »Die Enkelin des Begs Kobad. Das Mädchen, das du gesucht hast.«
Der Prinz senkte den Blick und betrachtete Lilya, die vor ihm stehen blieb und ihn ebenfalls staunend ansah. »Du bist kein Zwerg mehr«, sagte sie verblüfft. »Und du bist auch kein Panther ‒ jedenfalls nicht ganz und gar. Was bist du?«
»Massinissa«, erwiderte der junge Mann mit einem Seufzen. »Ab morgen wieder Amayyas, der Panther, und gestern noch Massin, der Zwerg. Frag mich nicht, was ich bin, denn ich weiß es selbst nicht.« Er griff nach Lilyas Hand, um sie ins Licht zu drehen. »Warum trägst du diese Maske?«, fragte er. Sein Gesicht kam näher, er musterte sie scharf. »Und was ist mit deinem Auge geschehen? Als wir uns im Basar begegnet sind, war es so
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