ePub: Juniper Berry
suchen, denn Wörter sind sehr, sehr wichtig. »Dann sehe ich die Wahrheit.«
»Die Wahrheit«, wiederholte Giles.
»Meine Ferngläser lügen nicht. Sie holen alles näher heran.« Sie schaute sich um. »Diese Wolke dort oben sieht nicht wirklich so aus. Genauso wenig wie diese Ameise oder die Sterne oder der Mond oder du und ich oder alles andere, was wir sehen können. Mit meinen Ferngläsern kann ich die kleinsten Teile erkennen, aus denen alles besteht, das, was sich direkt vor unseren Augen befindet und uns doch verborgen bleibt. Ich weiß auch nicht … Ich glaube, am besten gefällt mir, dass sie mir die Welt näher bringen.« Sie zuckte mit den Schultern und fürchtete, zu viel gesagt und sich lächerlich gemacht zu haben. »Ich mag sie nun mal, das ist alles.«
»Läufst du immer mit deinen Ferngläsern herum?«
»Ich forsche einfach gern. Es gibt hier draußen so viel zu entdecken.« Dabei fiel ihr der Baum wieder ein und sie untersuchte ihn weiter.
»Für dich vielleicht.« Giles sah mit einem so durchdringenden Blick zum Himmel, als wolle er direkt ins Weltall schauen. »Ich glaube, ich habe schon alles über diese Welt herausgefunden, was ich wissen muss.«
»Leider haben wir keine andere«, witzelte Juniper.
Doch Giles lachte nicht. »Wer weiß? Es muss doch noch etwas anderes dort draußen geben, etwas Besseres.«
Juniper wusste nicht, was sie zu dieser traurigen Äußerung sagen sollte. Wie sonderbar , dachte sie. Er will die Welt verlassen und ich will ein Teil von ihr sein. Ob es noch etwas dazwischen gibt?
Ihre Finger fanden eine Kerbe seitlich im Stamm und sie hielt sofort die Lupe darüber. »Sieh dir das an!«
»Was ist das?«, fragte Giles.
Eine Stimme ertönte hinter ihnen. »Das war Betsy.«
Die Freunde fuhren herum und erblickten Dimitri, der mit über die Schulter geworfener Axt hinter ihnen stand. Plötzlich raschelte es, und sie sahen, wie der Rabe mit einem erschreckten Krächzen in den Himmel flog. Dimitri sah ihm misstrauisch nach. Bald war er nicht mehr zu sehen. Juniper fragte sich, wohin er geflogen war und ob er sie immer noch beobachtete.
»Betsy?« Giles starrte auf die Klinge.
Dimitri streckte ihm die Axt hin. »Betsy.«
Giles zögerte einen Moment, dann griff er nach der Axt, um einen Blick darauf zu werfen. Doch die schwere Klinge sauste augenblicklich herab und versank im Boden. Knallrot vor Verlegenheit und Anstrengung versuchte Giles, sie wieder herauszuziehen.
»Sie haben ihr einen Namen gegeben?«, fragte Juniper.
»Warum nicht? Die Leute geben allen möglichen leblosen Dingen Namen, oder? Autos, Waffen, Schaukelstühlen …«
»Gitarren«, fügte Giles hinzu. Er schaffte es endlich, die Axt zu befreien, auch wenn er dabei fast hintenüberkippte.
»Sei vorsichtig«, mahnte Dimitri. »Richtig, Gitarren gehören auch dazu. Sie bekommen normalerweise weibliche Namen, darum hab ich beschlossen, meine Axt Betsy zu nennen.«
»Wollten Sie diesen Baum fällen?«, erkundigte sich Juniper.
»Es ist ein hässlicher Baum. Ich wollte Brennholz für deine Familie daraus machen, aber dein Vater hat mich aufgehalten. Kaum hatte ich den ersten Schlag ausgeführt, kam er aus dem Haus gerannt. Er war furchtbar aufgebracht, seine Augen glühten vor Wut. Er schrie mich an, ich solle auf der anderen Seite des Grundstücks bleiben und diesen Baum niemals anrühren. So habe ich ihn noch nie gesehen. Ich habe meine Konsequenzen daraus gezogen und mische mich nicht mehr ein, auch wenn es mir manchmal schwerfällt. Doch es gibt Dinge, die muss jeder für sich allein lernen.«
»Wie meinen Sie das?«
Dimitri öffnete den Mund und schloss ihn plötzlich wieder. Während er nachdachte, wanderte sein Blick zum Himmel, dorthin, wo der Rabe verschwunden war. Aus irgendeinem Grund schienen die Leute immer zu glauben, dass die Antworten direkt über ihnen schweben würden.Zweifellos wog Dimitri etwas ab. Schließlich schüttelte er den Kopf und fuhr mit der Hand über die Kerbe, die seine Axt im Baum hinterlassen hatte. »Dieser Baum ist reif. Das ist genau die richtige Stelle. Ein paar kräftige Schläge, und das morsche, alte Ding fällt um. Ich würde ihm keine Träne nachweinen, so viel ist sicher.« Er zog die Hand zurück und wischte sie an seiner Hose ab. Juniper bemerkte die Gänsehaut auf seinem Arm.
Dimitri nahm Giles die Axt wieder ab und schlug sie in einen Baumstumpf, wo sie stecken blieb. »Hier schläft Betsy, also weckt sie nicht auf.« Er lächelte mit
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