Er lockte mit dem Jenseits
entdeckt. Es folgte uns, aber es fiel dabei nicht auf, denn es tuckerte nur so vor sich hin.
»Du kannst dich ruhig setzen.«
Die Frau, die mir das sagte, hieß Carla. Ich kannte sie schon, sie war mit Henriette zusammen gewesen.
Man konnte Carla als das glatte Gegenteil der Henriette ansehen. Sie wirkte etwas schüchtern. Das fahle Haar fiel glatt an den Seiten ihres Kopfes hinab. So wirkte ihr Gesicht mit den vielen Sommersprossen noch schmaler. Sie hatte eine kleine Nase und helle Augenbrauen. Als Oberteil trug sie ein ärmelloses Hemd aus einem gerippten Stoff. Ich sah deutlich die schmalen Schultern, und man hätte sie auch gut für einen Junkie halten können.
Sehr lange schaute sie mich an. »Du bist ja neu hier«, stellte sie schließlich fest.
»Ja, das bin ich. Glenda und ich scheinen hier wohl die einzigen Neuen zu sein.«
»Das stimmt.«
»Und was ist mit den Männern?«
»Die habe ich auch schon gesehen.«
»Toll. Dann braucht ihr euch nicht mehr gegenseitig vorzustellen und über eure Wünsche zu sprechen, denke ich mal. Das kann man sich dann alles sparen.«
»Eigentlich schon.«
»Und warum seid ihr dann trotzdem hier?«
Sie schaute mich an. Ich gab den Blick zurück und erkannte, dass sie sehr helle Augen besaß. Darin stand etwas zu lesen, das mich leicht irritierte. Es war ein Ausdruck des unbedingten Willens. Er sagte mir, dass sie unbedingt ein Ziel erreichen wollte, koste es, was es wolle.
»Du weißt nichts?«, fragte sie.
»Nein, ich bin wohl dumm. Ich habe mich auf einen schönen Abend eingestellt, verstehst du?«
»Das habe ich gehört. Es ist eine besondere Fahrt, kann ich dir sagen.«
»Aha.«
Sie hatte Rotwein vor sich stehen, nahm einen Schluck und leckte sich die Tropfen von den Lippen, wobei sie mich leicht von der Seite anschaute.
Ich ließ ihr Zeit und sah, dass wir bereits die Waterloo Bridge passiert hatten.
»Du weißt es nicht?«
»Nein.«
Carla wischte einige Haarsträhnen zur Seite. »Diese Reise führt uns in ein neues Leben.«
»Oh, wie das?«
»Das sagte Marty.«
»Muss er das wissen?«, gab ich mich skeptisch.
»Ja, muss er.«
»Wie soll das neue Leben denn aussehen?«
»Ich habe keine Ahnung, John. Wir werden bald einiges darüber erfahren.«
Sie zog die Lippen in die Breite und flüsterte mir zu: »Ist doch spannend, oder?«
»Nun ja, es kommt darauf an, was man sich unter einem neuen Leben vorstellt, finde ich.«
»Einfach den alten Ballst abwerfen.«
»Hört sich gut an«, gab ich zu. »Und damit gibst du dich zufrieden?«
»Warum nicht?«
»War dein altes Leben denn bisher so schlecht?«
Sie verzog den Mund. »Nein, aber langweilig. Ich wohne noch bei meiner Mutter und lebe auch von ihr. Letzte Woche bin ich dreißig geworden. Da muss man sich schämen, wenn man da noch zu Hause lebt. Aber ich kann es nicht ändern.«
»Warum nicht?«
»Meine Mutter hat ein Geschäft. Mode für Mollige. Da muss ich eben mithelfen.«
»Das macht kein Vergnügen, oder?«
»Stimmt. Ich hasse den Laden. Ich hasse auch die Kundinnen, die dort einkaufen. Ich will alles hinter mir lassen. Deshalb sitze ich hier. Und ich bin gespannt, was morgen sein wird.«
»Das neue Leben«, sagte ich.
»Stimmt. Monty hat uns gesagt, dass wir Menschen kennen lernen werden, die bereits das neue Leben begonnen haben. Sie werden uns davon berichten.«
»Hört sich toll an. Sie müssten eigentlich schon an Bord sein. Oder nicht?«
Carla hob die Schultern. »Ich habe keine Ahnung. Es kann sein. Unter Deck möglicherweise.«
»Soll ich Monty mal fragen?«
»Nein, nur das nicht. Auf keinen Fall. Ich... ich... habe schon zu viel gesagt, glaube ich.«
Ich lächelte sie an und sagte: »Bestimmt nicht. Ich bin ja froh, dass ich davon erfahren habe. Da kann ich mich dann darauf einstellen.« Ich beugte mich ihr entgegen. »Aber was ist, wenn ich gar kein neues Leben haben will?«
Jetzt blies sie die Wangen auf. Wenig später entließ sie die Luft durch den Lippenspalt und sagte mit leiser Stimme: »Darüber habe ich noch nicht nachgedacht.«
»Eben.«
»Du bist mit deinem Leben zufrieden?«
»Ich kann mich nicht beklagen«, erklärte ich.
»Ja, das habe ich auch mal gesagt. Dann aber wurde alles anders, und ich fragte mich, warum ich eigentlich auf der Welt bin. Ich kann sogar meinen Vater verstehen, der meine Mutter verließ, als ich zehn Jahre alt gewesen war. Ich will ja auch weg.«
Ich antwortete mit einem Gegenargument. »Ob das neue Leben allerdings besser ist,
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