Er war ein Mann Gottes
Rücken, der sich unter dem Talar abzeichnete. Die Stola verbarg, wie schmal seine Schultern in Wirklichkeit waren. Ein Wirbel oben am Hinterkopf wirkte wie eine winzige Glatze. Seine Kopfhaut war ganz hell, viel weißer als die Haut im Gesicht. Im September, zwei Wochen nach unserem ersten Mal im Wald, hatte er mir eine Locke von sich geschenkt. Ich hatte sie mit einem Schleifenbändchen umknotet und trug sie in einem Medaillon um den Hals, das mir meine verstorbene Tante vererbt hatte.
Unter dem Talar schauten die Schuhe hervor, die Frederic getragen hatte, als wir uns wie zufällig auf dem Stadtfest trafen und den ganzen Abend beisammen blieben. Ich erkannte sie an einer kleinen runden Metallplakette, die bei jedem Schritt unter dem Hosensaum hervorblinkte.
Langsam setzte sich ein ketzerischer Gedanke in mir durch: »Dass er sich traut, so gemein über mich zu reden!«
Wie geschickt Frederics Schachzug war, mich als Verhaltensgestörte darzustellen, die ohne seine besondere Hilfe, seinen außergewöhnlichen Zeitaufwand und seine Freundschaft verloren wäre, begriff ich damals noch nicht.
Gott sei Dank, der Herr Vikar kümmert sich um sie
Seit wir »echte Freunde« wurden, trafen Frederic und ich uns fast jede Woche auf seinem Zimmer. Meistens kam ich schon nachmittags, direkt nach der Schule zu ihm. Ich klingelte im Pfarrhaus, er kam herunter und ließ mich ein. Manchmal begegneten wir Pfarrer Punktum im Gang, der mich unter seinen buschigen Augenbrauen hervor missbilligend anschaute, aber nur »Grüß Gott!« brummte, worauf ich ebenso antwortete. Hätte er etwas gefragt, hätten wir erklärt, dass Frederic mir Nachhilfeunterricht erteilte, weil ich so schlecht in Fremdsprachen war.
Zusätzlich kam ich mehrmals wöchentlich abends zu ihm. Manchmal lud er mich dann zu einer Autofahrt ein, die irgendwann im Wald endete. Hin und wieder ging er außerhalb unseres Ortes in einem möglichst abgelegenen Lokal mit mir zum Essen. Ein Kinobesuch mit ihm war das Größte.
Hinzu kamen all die offiziellen Gelegenheiten, die sein Amt mit sich brachte. Die Früh- und Spätschichten, die Ministrantentreffen zur Arbeitsplanbesprechung oder die Hüttenwochenenden, die wir als Ministrantengruppe miteinander verbrachten, um zu meditieren, aus der Bibel zu lesen, zusammen zu basteln und zu spielen, über Ethik und Moral zu diskutieren und dabei auch Leib und Magen nicht zu vergessen. Ein Gläschen in Ehren war dabei niemandem verwehrt. Und ein bisschen mehr durfte es immer sein.
Meine in der Schule und Ministrantengruppe unter Verhaltensstörung verhandelten Alkoholexzesse nebst Zigarettenkonsum, die schulische Lernverweigerung und das aufmüpfige Benehmen schienen die Häufigkeit meiner Treffen mit Frederic zu rechtfertigen. Da er dennoch genug Zeit für seine anderen Schäfchen hatte, verübelte man mir den großen Anteil an seiner knappen Zeit kaum.
Frederic wurde als meine gottgegebene Hauptbezugsperson angesehen. Man bedauerte ihn allenfalls hinter vorgehaltener Hand, weil er sich so selbstlos mit einer wie mir abgab. Vermutlich wusste unser ganzer Ort, dass »dem O. seine Tochter einen Sparren im Hirn« habe und der Herr Vikar ihr quasi den Teufel austreiben müsse.
So nahm niemand Anstoß daran, dass ich Frederic wie sein Schatten folgte. Im Gegenteil, als mein seelsorgerlicher Hirte und Seelenretter sowie trostreicher Berater meiner Eltern, der auch immer wieder von ihnen zu uns nach Hause zum Essen geladen war, wurde er noch mehr bewundert.
In meinem Tagebuch klebt für jenen Abend während des Stadtfests, an dem Frederic mich zum ersten Mal auszog und anschließend mit mir um Vergebung meiner Sünden betete, ein Poesiealbum-Glanzbildchen mit zwei Tauben in einem Rosenbogen, die gemeinsam einen Liebesbrief zu einem roten Briefkastenherz tragen.
Ich hatte ziemlich viel getrunken an diesem Abend. Seit meinem ersten Eierlikör bei ihm trank ich immer, wenn ich zu Frederic gehen wollte. Es war wie ein Ritual. Es gefiel ihm, wenn ich angeheitert zu ihm kam.
»Du bist absolut süß mit einem Schwips!«, meinte er.
Ganz zu schweigen davon, dass ich den unwirklichen Teil unserer Freundschaft besser von mir abspalten konnte, wenn ich nicht nüchtern war.
Als ich kam, saß er bei einem Glas Rotwein auf dem Sofa. Ein zweites für mich stand parat. Eine CD lief und die Übergardinen waren geschlossen. In einem hohen Windlicht brannte eine der dicken Altarkerzen, die für den Tisch des Herrn nicht mehr würdig genug
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