Er war ein Mann Gottes
er mich wider Erwarten nicht gescholten, sondern mir verziehen und den Segen Gottes auf die Stirn gezeichnet. Das hatte mich tief beschämt. Viel mehr, als wenn er wütend geworden wäre.
Aber ich ahnte, dass er mir seitdem nicht mehr so vertraute wie zuvor. Ich habe, glaube ich, nie im Leben so bitterlich geweint wie damals über mich und meine vorlaute Zunge.
Meine Mutter soll mir nicht glauben
Mein Geständnis, mich einer wildfremden Person anvertraut zu haben, brachte Frederic in Zugzwang. Wenn er sein Priesteramt retten wollte, musste ich zum Schweigen gebracht werden. Das würde am sichersten gelingen, wenn mir keiner mehr glaubte.
Die erste Gelegenheit bot sich, als meine Mutter ihm im »innigen Beichtgespräch« anvertraute, dass sie sich wegen meiner schulischen Null-Bock-Haltung Sorgen mache, aber mit meinem Vater nicht darüber reden könne, weil er Belastungen nicht aushalte.
Hätte Frederic gewollt, hätte er ihr die wahren Ursachen meines Schulversagens verraten können. Aber damit hätte er sich die eigene Grube gegraben. Lieber beruhigte er sie mit Argumenten, die ihn selbst aus der Verantwortung nahmen und der inneren Erwartungshaltung meiner Mutter entsprachen.
»Sie wissen doch, liebe Frau O., Kinder in Coras Alter sind nicht Fisch, nicht Fleisch. Sie ist einfach noch auf der Suche nach sich selbst. Sie kennt ihre Bestimmung noch nicht. Aber Gott ist ihr Hirte. Sein Stecken und Stab leiten sie. Ich bin für sie da. Glauben Sie mir, auch Cora wird diese Zeit der Selbstsuche gestärkt überwinden und ein vollwertiges Mitglied der Gemeinde werden.«
Sein Stecken und Stab? Als ich zufällig belauschte, wie meine Mutter meinem Vater von diesem Beichtgespräch und dem so ganz wunderbaren Trost des Herrn Vikars berichtete, musste ich fast laut lachen. War das wieder eine von Frederics doppeldeutigen Bemerkungen, die ich allmählich zu begreifen lernte? Er liebte solche Schlüpfrigkeiten.
Manchmal, wenn wir in der Clique auf dem Kirchplatz standen und seiner Lieblingsbeschäftigung, dem »people watching«, nachgingen, wie er es nannte, wenn man heimlich Leute beobachtete, hatte er Sprüche parat, die selbst den älteren Ministranten peinlich waren. Ich erinnere mich nur an ein, zwei Episoden. Einmal stöckelte ein sehr dünnes Mädchen auf Stilettos an uns vorbei. Die Absätze blieben immer wieder zwischen den Ritzen des Kopfsteinpflasters hängen. Wenn sie mit den Füßen ruckelte, um frei zu kommen, sah es aus, als scharre ein Huhn im Sand. Prompt fiel Frederic ein, die meisten Männer hätten es schon mal mit einem Grill-Hühnchen getrieben. Oder die Sache mit der dicken Frau und dem Schäferhund. Es konnte schon stimmen, dass sie keinen Mann hatte. Aber wieso musste Frederic behaupten, dass sie sowieso keinen bräuchte, weil sie garantiert auf ihrem Hund herumreiten würde? Wieso musste er ständig diese peinlichen Sprüche loslassen?
»Der will sich doch bloß bei den Jungs einschleimen«, meinte Franziska. »Das meint er nicht so.«
Vielleicht hatte sie recht. Die Jungen schienen seine Bemerkungen zu genießen. Sie wieherten geradezu vor Lachen, wenn er etwas in dieser Art vom Stapel ließ. Ich hingegen fand es peinlich. Ich wollte zu ihm aufschauen und ihn bewundern, nicht mich für ihn schämen.
»Verklemmt«, nannte Frederic mich. Ich hätte ihn auch gern etwas genannt. Aber so etwas sagte man nicht zu einem Priester.
Dass Frederic mich bei meiner Mutter als unglaubwürdig dargestellt hatte, verletzte mich tief. Ich verstand seine Gründe nicht.
Heute weiß ich, dass er es tat, um sich zu schützen. Ihm musste dringend daran gelegen sein, dass mich niemand mehr ernst nähme.
Auch für einen Priester gilt in Strafsachen das weltliche Gesetzbuch. Und bei einer Anzeige und Bestrafung wegen sexuellen Kindesmissbrauchs wäre es mit seiner Freiheit aus gewesen. Nicht bloß durch eine zu erwartende Haftstrafe, sondern auch im Hinblick auf die Kirche. Seinen Priesterstatus durfte ihm zwar niemand nehmen, weil er dazu nicht von Menschen, sondern von Gott berufen worden war und folglich auch nur durch Gott daraus entlassen werden konnte. Aber die Ausübung seines Amtes als Vikar oder Pfarrer mit einer eigenen Pfarrei konnte die Kirchenobrigkeit für die Zukunft verhindern.
Er würde also von der Aufgabe enthoben werden, sich in der Jugendseelsorge zu betätigen. Er würde den Zugang zu den Kindern, zu den Mädchen verlieren, für die er der Größte war, an denen sich seine sexuelle
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