Er war ein Mann Gottes
meinem Sündenregister löschte. Sie waren dann wie nie geschehen und existierten nicht mehr. Man brauchte sie nicht wieder erwähnen. Niemand durfte den ersten Stein auf mich werfen, keiner mehr darüber schimpfen.
In der Kommunionszeit hatte ich es toll gefunden, dass ich beichten und danach wie frisch gewaschen aus der Kirche gehen durfte. Ich hatte meine evangelischen Mitschülerinnen bedauert, die ihr ganzes Leben lang mit ihren Sünden herumlaufen mussten. Wie ein Privileg war es mir erschienen.
Jetzt merkte ich, dass gerade die Beichte es mir von Anfang an unmöglich machte, irgendjemandem außer Franziska anzuvertrauen, was Frederic mit mir gemacht hatte. Ja, nicht einmal ihr konnte ich es sagen. Gott hatte es uns sofort danach vergeben. Es war in der Sekunde der Lossprechung und des Segens nichts mehr davon da. Was Gott verzieh, durfte ich nicht mehr erwähnen. Nichts davon konnte ich aus Frederics Zimmer mit mir hinausnehmen.
Ein reumütiger Sünder, dem Gott verziehen hatte, war weiß wie die Unschuld. Gott selbst hatte ihm eine neue Chance gegeben. Also musste auch ich vergeben und vergessen, dass Frederic und ich jemals einen »Fehler« begangen hatten, und musste glauben, dass dieser »Fehler« nie wieder zwischen uns Vorkommen werde. Gott glaubte es. Wie viel mehr musste ich es tun.
Jedes Mal, wenn Frederic mich nach einem solchen Versprechen wieder einlud, ihn zu besuchen oder etwas mit mir allein unternahm, verdrängte ich meine Ängste und vertraute ihm ganz bewusst aufs Neue. Und sooft wir abermals einen »Fehler« machten, bewirkte Frederics heißer Priesterdraht zu Gott, dass wir wieder rein wie die Unschuldsengel wurden. Also gab es jedes Mal nichts mehr, was ich hätte erzählen können.
»Nobody is perfect«, schrieb ich in mein Tagebuch und klebte einen Aufkleber daneben, der in großen, grellen Buchstaben schrie: »Why?«
Ich weiß nicht, ob ich mich anders verhalten hätte, wenn es bei jedem Treffen zu sexuellen Übergriffen gekommen wäre. Dies war jedoch nicht der Fall.
Oftmals, vor allem direkt nach der Schule oder der nachmittäglichen Betstunde, saßen wir in Ruhe, ohne Alkohol oder bei nur einem Schlückchen Cognac, beisammen und redeten.
Diese freundschaftlichen Begegnungen liebte ich über alles. Es war himmlisch, bei Frederic zu sitzen und seine Aufmerksamkeit zu genießen. Ich fühlte mich unendlich sicher und beschützt bei ihm. Geborgener kann kein Kind sich im Mutterleib fühlen.
Nach diesen Stunden sehnte ich mich innerlich zu Tode. Es war, als käme ich dann endlich bei mir an. Meine immerwährende, ungestillte Sehnsucht nach Zufriedenheit, nach Angenommensein wurde bei ihm befriedigt. Es fühlte sich süß an, mit ihm zu sprechen und zu lachen und mich in der Wärme seiner Blicke zu sonnen. So wonnig war das, so unaussprechlich schön, dass ich es wohl niemals richtig beschreiben kann.
Es war eine bittere Erkenntnis, dass mir diese Sehnsucht nur weiteren seelischen Schmerz einbrachte. Sobald ich sein Zimmer verließ, wurde mir dies bewusst. Wie weh tat das, wenn Frederic mich zuerst begehrte und danach wieder fallen ließ. Wenn er mir ohne jede Erklärung, ohne jeden mir nachvollziehbaren Grund und Anlass wieder und wieder zeigte, dass ich nicht würdig war, bei ihm zu sein, ihn anzusprechen, anzurufen, ein »Extrasätzle« von ihm zu hören. Wie verzweifelt einsam war ich dann. Wie verloren und verlassen. Wie finster war es in meiner Not.
Jeden Tag war es, als hinge ich am Rand einer Klippe über dem Abgrund und nur seine Hand könne mich halten. Ich kämpfte so verzweifelt darum, diese Hand ergreifen zu können, doch immer, wenn ich glaubte, einen Finger erwischt zu haben, ein wenig Halt gefunden zu haben, entzog er sich mir wieder. Niemals wusste ich, wann er mich halten würde und wann nicht.
Ich hing an dieser Klippe und hatte nichts, nur Angst, namenlose, bodenlose Angst zu versagen und zu stürzen, ins Ungewisse. Ich hatte Todesangst.
Und immer spürte ich in meiner Angst, dass es meine Schuld sein müsse, war ich sicher, dass es etwas mit meinem Wert, meinem Ich zu tun hatte, wenn Frederic sich mir entzog.
Manchmal war es genau das, was alle »verkehrt« nannten, was für Frederic genau richtig war. Ich wusste, so wollte er mich, so liebte er mich, so hielt er mich. So war er mein Freund, der für mich da war. Schon Minuten später verstieß er mich, tadelte mich und verriet mich vor meiner Mutter oder meiner besten Freundin. Warum?
Vielleicht
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