Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Er war ein Mann Gottes

Er war ein Mann Gottes

Titel: Er war ein Mann Gottes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karin Jäckel
Vom Netzwerk:
hätte ich mich innerlich darauf einstellen können, hätte es für das Rätsel eine Regel gegeben. Aber diese Regel gab es nicht, nicht einmal einen Anhaltspunkt dafür.
    Doch wie verzweifelt ich auch war, sobald Frederic sich mir wieder zuwandte, mich wieder annahm, flog mein Herz, mein Alles ihm sofort wieder zu.
    In der Kirche beteten wir: »Aber sprich nur ein Wort, so wird meine Seele gesund.« So empfand ich Frederic und sein Wort. Ein »Extrasätzle« für mich und ich war bei ihm geborgen und heil und »richtig«. Nichts zählte dann mehr als nur noch dieser tiefinnere Frieden, ihm zu gehören und von ihm angenommen zu sein.

Meine Gefühle für Frederic

    Als Kind dachte ich, dass ich in Frederic verknallt sei, dass sich Verliebtheit so anfühlen müsse. Ich hatte keinen Vergleich, an dem ich meine Gefühle für ihn hätte messen können. Zu diesem Eindruck trug auch bei, dass er mich sexuell missbrauchte und ich bei seinen Manipulationen an meinem Körper ungewollt Lust empfand. Dabei war es vor allem das Gefühl, wenn er mich streichelte und liebkoste, das ich genoss, weit mehr als die erste sexuelle Lust, die gegen Ende meiner Beziehung mit Frederic manchmal zum Höhepunkt führte.
    So, dachte ich, müsse es sein, wenn man verliebt sei. Dass es das nicht war, erkannte ich erst, als ich mich wirklich verliebte und meine Gefühle so ganz anders waren als die für Frederic.
    Ich hatte geglaubt, weil er zu viel Alkohol trank, anstatt asketisch zu leben, und Unkeusches tat, anstatt dem Zölibat zu gehorchen, sei er besonders mutig oder zumindest ebenso »irgendwie nicht richtig« wie ich.
    Ich hatte seine Schwäche als Stärke ausgelegt, weil ich mir einredete, er rebelliere aus Überzeugung gegen den Zölibat und andere Gesetze der Kirche. In meiner Phantasie war er ein Revolutionär, mein Abgott, mein Idol, mein Vorbild in allem. Er war mein Licht am Ende des Tunnels. Keinen Menschen verehrte ich so wie ihn.
    Habe ich ihn geliebt? Wie eine Frau einen Mann liebt? Kann ein Kind von zwölf, dreizehn Jahren so lieben? Wie oft habe ich mich das gefragt!
    Ich denke heute, dass meine Gefühle am ehesten mit den Gefühlen zu vergleichen sind, die das Kind empfindet, das sich nach der Mutter sehnt.
    Auf dem Schlachtfeld, heißt es, rufen Verwundete oder Sterbende nach der Mutter, nach ihrer Hilfe, nach der tröstenden Zuflucht an ihrem Herzen, nach ihrer unerschütterlichen Liebe. Genau so wünschte ich mir, bei Frederic zu sein. So unendlich wünschte ich mir, ihm etwas zu bedeuten, für ihn wichtig zu sein.
    Von ihm angeschaut zu werden, mit diesem sonnigen, mit diesem so warmen, herzlichen Blick, schlug mein ganzes Ich vor ihm auf. Es klingt so kitschig, wenn ich sage, dass meine Seele in seiner Nähe schmolz. Aber genau so fühlte ich es. Als ob ich mich wachsweich in reinstes Glück auflösen würde.

    Vielleicht war das so, weil ich mich vom Babyalter an alleingelassen fühlte? Weil meine Mutter mich nach meiner Geburt nicht annehmen konnte? Weil sie mich winzigen Säugling alleinließ, wenn ich nach ihr schrie? Weil sie mich nicht spüren lassen konnte, dass sie mich lieb hatte? Weil ich mir vor lauter Sehnen nach ihr ein endlos tiefes, nicht aufzufüllendes Loch in die Seele schrie?
    Manchmal denke ich, Kinder sind wie kleine Gänse, die aus dem Ei schlüpfen und den ersten, der sie voller Liebe anschaut, für ihre Mutter halten und ihr von diesem ersten Blick, von dieser »Prägung« an für immer und überallhin nachlaufen müssen. Auf geheimnisvolle Weise war es, als wäre Frederic für mich dieser Mensch gewesen.

Die Eine wollte ich sein, die Einzige war ich nicht

    Ich habe mich oftmals bemüht, mir ins Bewusstsein zu rufen, wann genau die wundersam schönen, die reinen Freundschaftsstunden mit Frederic stattfanden. Da ich nur wenig darüber in meinem Tagebuch notierte, ist die Erinnerung dünn. Ersichtlich wird aus den Einträgen, dass es unter anderem damit zusammenhing, dass vor mir andere Mädchen bei ihm gewesen waren. Das Mädchen mit dem Hund von der Kirchentreppe zum Beispiel oder Estefania, mit der Frederic auf der Reise nach Assisi so viel Zeit verbracht hatte. Auch Mädchen, von denen er sich Passfotos erbeten hatte. Einige dieser Fotos steckten an einer Pinnwand in seinem Zimmer.

    Wir begegneten uns im Treppenhaus oder gaben einander die Pfarrhausklinke in die Hand. Nie wechselten wir dann ein Wort miteinander. Vielmehr liefen wir rasch aneinander vorbei, als sähen wir uns gar nicht. In

Weitere Kostenlose Bücher