Er war ein Mann Gottes
Haftentlassung beruflich und gesellschaftlich möglichst rasch wieder sicher dastehen könne.
»Die Kirche wird zu mir halten«, überraschte Max mich, nachdem er Besuch von seinem Dekan, dem Regionaldekan und dem Domkapitular erhalten hatte. Sie hatten ihm angeboten, er möge sich während der Zeit der Inhaftierung und einige Jahre danach prüfen, ob eine Rückkehr in die Kirche oder eine Laisierung als Rückkehr in den Laienstand für ihn richtiger sein werde.
Auf jeden Fall durfte er sich nach verbüßter Strafe auf einen sicheren Arbeitsplatz in einer kirchlichen Beratungsstelle und auf eine schöne Wohnung an einem angenehmen Wohnort freuen.
»Ich kann mir gut vorstellen, Sozialhilfepläne zu basteln und so. Aber ob ich weiter mit meinem ganzen Wesen zu dieser sexualfeindlichen Kirche stehen kann? Ich glaube es fast nicht.«
Ich glaubte es gar nicht.
Seine größte Angst
Sexueller Kindesmissbrauch ist das wohl meist geächtete Verbrechen der Welt. Täter, egal ob Mann oder Frau, erlangen ihren guten Ruf niemals wieder. Auch nach verbüßter Haftstrafe bleiben sie gesellschaftlich geächtet und gefürchtet. Katholische Geistliche als Täter sind für ihr in der Öffentlichkeit ausgeübtes Amt untragbar.
Mit weltlichen Tätern will niemand befreundet sein, niemand will freiwillig in ihrer Nachbarschaft wohnen oder mit ihnen zusammenarbeiten. Niemand würde ihnen je wieder ein Kind anvertrauen, und wenn die Polizei nach einem Täter fahndet, stehen sie auf der Liste der möglichen Tatverdächtigen ganz oben. Immer wieder werden Forderungen nach öffentlichen Täterlisten laut, um Eltern die Möglichkeit zu geben, ihre Kinder besser zu schützen.
Für klerikale Täter gilt das Gleiche. Wer würde wohl ausgerechnet bei einem solchen Priester heiraten oder sein Kind taufen lassen wollen? Wer würde aus einer solchen »befleckten« Hand den Leib Christi oder den Segen Gottes empfangen wollen? Wer würde bei einem solchen Mann Gottes beichten und sich die Absolution erteilen lassen? Wer würde ihm vertrauensvoll sein Kind zur religiösen Unterweisung, Kommunion oder Firmung überlassen? Niemand.
Wer immer es ist, der ein Kind sexuell missbraucht, weiß das alles. Nur deshalb wird ein solches Geheimnis aus der Tat gemacht und müssen die Kinder schweigen. Max wusste es auch.
Max wusste, dass weder die Eltern der von ihm missbrauchten Kinder noch die Kinder selbst ihm jemals vergeben würden. Seine Angst vor einer Begegnung erwuchs aus Befürchtungen, wie sie auf ihn reagieren würden, falls er ihnen zufällig über den Weg liefe.
Vielleicht würden sie ihn zusammenschlagen oder umbringen oder andere dafür bezahlen, ihm Gleiches mit Gleichem zu vergelten. Vielleicht würden die Kinder schreiend vor ihm fliehen oder mit dem Finger auf ihn zeigen, und alle Umstehenden würden dadurch erfahren, was er getan hatte.
Als ich seine Briefe während meiner Therapiezeit durcharbeitete, um Klarheit darüber zu gewinnen, welche Signale der Aussichtslosigkeit ich in unserer Beziehung übersehen hatte fiel es mir wie Schuppen von den Augen, wie groß Maxens Angst vor einem Wiedersehen mit den Menschen war, die ihn kannten.
Obwohl er niemals ausgeführt hatte, warum er sich davor fürchtete, hatte er diese Angst mehrfach konkret benannt. Und bei seinem ersten begleiteten Ausgang mit seiner »Bezugsperson«, die er mir nie näher bezeichnete, warnte er mich geradezu, nur ja keinem zu sagen, dass er Ausgang bekommen werde.
Es sei dringend erforderlich, dass er in Ruhe gelassen werde.
Die Menschen aus dem sozialen Umfeld während der Haft hatte Max für sich einnehmen können. Die Kinder, die er missbraucht hatte, kannten sein wahres Gesicht. Sie und ihre Eltern würden ihm die Maske abreißen.
Sie würden ihn nicht schonen und keine Rücksicht auf seine göttliche Berufung nehmen. Sie würden ihn knallhart fragen: »Warum hast du mich, warum hast du mein Kind sexuell missbraucht?« Und sie würden ihn zu einer Antwort zwingen, ohne die Samthandschuhe eines Psychologen.
Vor dieser Konfrontation fürchtete Max sich.
Seine Furcht öffnete mir die Augen über Frederic und seine kunstvollen Tricks, sexuellen Missbrauch als harmlose Freundschaft erscheinen zu lassen. Er hatte mir erklärt, dass er niemals Pfarrer in unserem Ort werden dürfte, wenn man erfahren würde, dass wir echte Freunde seien. Ich hatte ihm geglaubt und geschwiegen.
Jetzt zeigte mir Max, dass Frederic nicht nur Angst um seine Priesterkarriere hatte.
Weitere Kostenlose Bücher