Erbarmen
während sie an einem Lastwagen vorbeibretterten. »Mein Geburtstag, woher ich komme, und was ich dort gemacht habe? Meinst du so was, Carl?«
»Warum hast du eine permanente Aufenthaltsgenehmigung bekommen, Assad? Steht das da auch?«
Er nickte. »Carl. Wenn ich zurückkehre, werde ich umgebracht, so ist das. Die Regierung in Syrien mochte mich nicht so sehr, verstehst du.«
»Warum?«
»Wir dachten nur nicht dasselbe, das reicht.«
»Reicht wofür?«
»Syrien ist ein großes Land. Menschen verschwinden einfach.«
»Okay. Und du bist sicher, dass du umgebracht wirst, wenn du zurückfährst?«
»So ist es, Carl.«
»Hast du für die Amerikaner gearbeitet?«
Assad wandte ihm abrupt den Kopf zu. »Warum sagst du das?«
Carl wandte sich ab und sah aus dem Fenster. »Keine Ahnung, Assad. Ich frag bloß.«
Als er das letzte Mal die alte Polizeiwache in der Storgade in Sorø besuchte, hatte sie zum Kreis 16, Polizeibezirk Ringsted, gehört. Jetzt gehörte sie stattdessen zum Polizeibezirk Südseeland und Lolland-Falster. Aber die Backsteine des Gebäudes waren noch immer rot, die Gesichter hinter der Schranke dieselben und die Aufgaben auch. Was die davon hatten, dass sie die Leute aus der einen Schublade in eine andere steckten, konnte man als Frage für die Sendung »Wer wird Millionär?« einreichen.
Er hatte damit gerechnet, dass einer der Kripobeamten auf der Wache um eine weitere Beschreibung des großkarierten Hemdes bitten würde. Aber nein, so primitiv waren die nicht. Vier Mann warteten in einem Büro auf ihn, das so groß war wie das von Assad, und alle sahen aus, als hätten sie bei dem fürchterlichen Ereignis heute Nacht einen Angehörigen verloren.
»Jørgensen«, stellte sich einer von ihnen vor und reichte Carl eine eiskalte Hand. Derselbe Jørgensen hatte vor wenigen Stunden garantiert am Tatort gestanden und in die Augen von zwei jungen Kerlen gestarrt, denen jemand das Leben mit einem Druckluftnagler ausgepustet hatte. Wenn es so war, dann hatte er heute Nacht bestimmt kein Auge zugetan.
»Willst du den Tatort sehen?«, fragte einer der vier.
»Ist das nötig?«
»Er ist nicht ganz so wie der auf Amager. Die zwei wurden in einer Autowerkstatt umgebracht. Einer in der Werkstatt und einer im Büro. Die Nägel wurden aus sehr kurzem Abstand abgefeuert, denn sie steckten bis zum Anschlag drin. Man musste schon genau hinschauen, um sie zu entdecken.«
Ein anderer reichte ihm zwei Fotos im DIN-A4-Format. Es stimmte. Man konnte direkt am Schädel gerade noch den Kopf des Nagels ausmachen. Es hatte kaum geblutet.
»Wie du siehst, waren sie beide bei der Arbeit. Schmutzige Hände und Blaumänner.«
»Fehlt etwas?«
»Überhaupt nichts.«
»Womit waren sie denn gerade beschäftigt? War es nicht schon spät am Abend? Bastelten sie an irgendwas herum?«
Die Kripobeamten sahen sich an. Das war offenbar ein Problem, mit dem sie immer noch befasst waren.
»Es gibt Hunderte von Schuhabdrücken. Die haben da drinnen nie richtig sauber gemacht, glaube ich«, erklärte Jørgensen. Er hatte es bestimmt nicht leicht.
»Carl, jetzt musst du dir das hier mal genau ansehen«, fuhr er fort und nahm den Zipfel von einem Tuch, das auf dem Tisch lag. »Und sag nichts, ehe du dir ganz sicher bist.«
Dann zog er das Tuch weg. Darunter lagen vier Holzfällerhemden mit großen roten Karos. Sie lagen nebeneinander wie Holzfäller, die im Wald auf der Erde liegen und ein Nickerchen machen.
»Ist da eins dabei, das dem gleicht, das du auf Amager gesehen hast?«
Das war die sonderbarste Konfrontation, die er jemals erlebt hatte. Welches der Hemden war es?, lautete die Frage. Es hätte ein Scherz sein können, wenn auch ein schlechter. Hemden waren noch nie sein Spezialgebiet. Er kannte nicht einmal seine eigenen.
»Ich weiß, dass es nach so langer Zeit schwer ist, Carl«, sagte Jørgensen müde. »Aber es würde uns enorm weiterhelfen, wenn du dir die Mühe machtest.«
»Warum zum Teufel glaubt ihr, dass die Täter Monate später dieselben Klamotten anhaben? Ihr hier draußen auf dem platten Land zieht doch auch mal was anderes an, oder?«
Jørgensen ignorierte seine kleine Unverschämtheit. »Wir müssen alles versuchen.«
»Und wie könnt ihr sicher sein, dass der Zeuge, der die möglichen Täter von weitem sah und obendrein bei Nacht, ein rot kariertes Hemd so unglaublich genau erkannt hat, dass ihr seine Beschreibung als Ausgangspunkt nehmen könnt? Die vier Hemden da gleichen sich doch verdammt
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