Erbe des Drachenblutes (German Edition)
Innerhalb von Sekunden malte sie sich ein Schreckensszenario aus, in dem unvorstellbare Monster und Dämonen über das Land herfielen.
»Wenn es so wäre«, sagte Herdanik, »dann können wir nichts dagegen tun. Keiner weiß, wie es mit den göttlichen Kuppeln weitergehen wird und ob der dunkle Kontinent schon kleine Schlupflöcher in das freie Reich gefunden hat. Die breite Bevölkerung kennt unsere Sorgen nicht, sie dürfen es auch nicht erfahren! Unruhen würden ausbrechen und die Situation nur verschlimmern. Vor allem, da der Schutzschild ja noch hält und wir noch weit von so einem Schreckensszenario entfernt sind. Nur die weiße Regentin, einige ihrer engsten Vertrauten und manch ein Volksvertreter wissen darüber Bescheid. Wir sind ständig wachsam und versuchen uns darauf vorzubereiten. Keines der Untiere soll ungestraft über die unschuldigen Bewohner herfallen können.«
»Klar«, erwiderte Mina sarkastisch, »ständig wachsam und darauf vorbereitet. Ich will Eure Illusionen nicht zerstören, aber Ihr konntet nicht einmal die Regentin in ihrem eigenem Gemach beschützen, wie soll das dann erst werden, wenn die Kuppel verschwindet und alle Verbannten gleichzeitig freikommen?«
Herdaniks Augen flackerten, doch Mina hielt nicht inne. »Ich rede dabei von den Schuldigen und von den Unschuldigen. Euch ist doch klar, dass es dort ganze Generationen von Bewohnern gibt, die keine andere Wahl hatten, oder?« Sie nickte, weil sie sah, dass sie recht hatte. »Ihr habt nicht die geringste Ahnung, was auf uns zukommen kann, wenn die Kuppel verschwindet.«
Inzwischen dröhnte ihr Kopf unermüdlich, und sie fragte sich, ob sie nicht einfach gehen sollte. Ein betretenes Schweigen breitete sich aus.
»Komische Sache, das alles.« Es war Nexus, der mit seiner hellen Stimme die Aufmerksamkeit auf sich zog. »Der Zeitpunkt, in dem das Land in Unsicherheit schwebt, wirklich. Wenn ich so darüber nachdenke, würde ich das ausnutzen, ausnutzen für einen Ausbruch, ja.«
»Und das, mein kleiner Freund, würde auch deine erste Frage beantworten: Warum sollte meine Mutter gerade jetzt ermordet werden?«, wiederholte Mina. »Es wäre ein Motiv. Und ich bin noch lange nicht so weit, dass ich sie ersetzen könnte. Geschweige denn, dass die vereinten Völker mich akzeptieren würden.« Sie schaute von Herdanik zu Salvatorus. »Es kann sein, dass meine jetzige Anwesenheit hier Zufall ist, aber vielleicht ist sie auch der Auslöser. Würde das tödliche Attentat dem dunklen Kontinent einen Vorteil bringen? Ich glaube, ja. Besonders, wenn eine Revolution kurz bevor steht.«
Herdanik erbleichte, traute sich jedoch nicht, Widerworte zu geben.
»Das wäre unser aller Untergang«, sprach Salvatorus seine Gedanken laut aus.
v v v v v
Der dritte Tag war angebrochen. Nach der Tradition musste eine verstorbene Drachentochter an diesem Tag in allen feierlichen Ehren beigesetzt werden. Der Brauch gab vor, dass vorher eine Nachfolgerin bestimmt werden sollte. In der Vergangenheit war das niemals ein Problem gewesen. Stets hatte es eine Tochter gegeben, die für die Position ausgebildet worden war und ohne Zögern das vorgesehene Erbe antrat. Doch jetzt war alles anders. Noch niemals hatte es eine Drachentochter gegeben, die nicht einmal in Dra'Ira groß geworden war, geschweige denn, dass sie die Völker und ihre Gepflogenheiten kannte. Im Ratssaal tönten die unterschiedlichen Stimmen durcheinander. Die Mitglieder des Völkerrates redeten, brüllten und riefen quer durch die Menge. Salvatorus hatte die Versammlung einberufen. Aus seiner Sicht gab es – trotz zweifelnder Stimmen – nur eine einzige Kandidatin: Mina von Gabriel, die leibliche Tochter von Samantha und die letzte Erbin des Drachenblutes. So hatte er es den Ratsmitgliedern vorgetragen und dabei für ungemeine Aufregung gesorgt. Mina selbst saß am Rande des Saals und beobachtete das Treiben in aller Ruhe. Sie musterte die unterschiedlichen Gesichter und Reaktionen und versuchte abzuschätzen, wie hoch die Stimmenzahl für ihre Einsetzung sein konnte. Ob sie überhaupt diese Ehre erwiesen bekommen wollte, hatte sie niemand gefragt. Nach der Ermordung ihrer Mutter waren Unruhen unter den Bürgern ausgebrochen. Sie hatten Angst, und das spiegelte sich auch in den Worten ihrer Vertreter wider.
Jemand brüllte, dass der lautlose Tod wieder zugeschlagen habe und dass endlich etwas unternommen werden müsse. Ein anderer forderte, dass eines der Ratsmitglieder zur Wahl für den
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