Erbe des Drachenblutes (German Edition)
rechts zu erkennen, der Schneefall war inzwischen zu dicht.
»Simon! Wie weit ist es noch?«, brüllte sie erneut. Der Schnee verschlang ihre Worte fast vollständig, aber jetzt schaute der Greifenreiter in ihre Richtung. Er zog den Schal ein wenig herunter, bis bibbernde Lippen zum Vorschein kamen.
»Bevor sich die Wolken zusammengezogen hatten, konnte ich das Auge der Götter sehen, Mina! Es kann nicht mehr weit sein! Wir werden versuchen, im Windschatten des Berges eine Landestelle zu finden, auf der wir warten können, bis sich das Wetter wieder beruhigt hat!« Er hatte mit ganzer Kraft geschrien, dennoch hatte Mina Mühe gehabt, ihn zu verstehen. Sie schaute wieder nach vorne und spürte, wie der Greif unter ihr von den Winden hin und her gestoßen wurde. Langsam machte sie sich Sorgen. Der Greif kreischte, als sei er wütend. Sie drückte sich noch tiefer in das Gefieder am Hals des Tieres.
Herdanik rief etwas, doch was es war, konnte sie nicht sagen. Simon schien ihn verstanden zu haben, denn er lenkte sein Reittier weiter nach rechts. Dabei kam der Greif unvermittelt in die Flügelreichweite eines anderen und geriet ins Taumeln. Simon brüllte, doch es war zu spät. Mina merkte, wie der Wind mit dem Greifen spielte, als ob er genau auf einen solchen Fehler gewartet hätte. Hart wurde das Tier nach unten gedrückt, nur um im nächsten Herzschlag steil nach oben abzutreiben. Simon versuchte, es unter Kontrolle zu bekommen, doch je mehr er sich darum mühte, desto wilder wurden die Bewegungen des Greifen. Simon rief Zados´ Namen. Offenbar flog er in ihrer Nähe, doch Mina konnte ihn nicht ausmachen. Wie hypnotisiert blickte sie nach unten, in ein endlos scheinendes Meer aus Weiß, dann verlor sie den Halt. Simon griff nach ihr, seine behandschuhten Finger berührten die ihren, doch sie entglitt ihm zusehends. Er fluchte. Sekunden wurden zu Minuten. Sie hörte Zados nach ihr rufen, doch es war zu spät – sie glitt unaufhaltsam zur Seite weg. Die Welt bestand nur noch aus wild gewordenen Schneeflocken, die sich im ewigen Weiß vereinten.
`Ich werde sterben!´, dachte sie hysterisch. `Und alle meine Bemühungen waren umsonst! Mutter, es tut mir leid.´
Simons Finger lösten sich endgültig.
Da wurde ihr Körper zur Seite gerissen. Kräfte zogen sie hin und her, etwas hatte ihren Sturz aufgehalten, bevor er richtig begonnen hatte. Übelkeit übermannte sie, mit schreckgeweiteten Augen blickte sie nach oben. Sie sah direkt in Zados´ Gesicht, das vor Anspannung rot angelaufen war. Er hing mit einem Seil befestigt unter einem Greifen und umklammerte ihren Brustkorb. Bevor sie verstand, was geschah, bedeutete er aufgeregt seinem Greifenreiter, dass er tiefer fliegen sollte. Zuerst dachte sie, dass er landen wollte, doch dann wurde ihr klar, dass sie unfreiwillig sanken. Mina zog ihre Retter hinab, und es ging viel zu schnell. Der Greif gab ein zorniges Krächzen von sich, dann knickte einer seiner Flügel weg. Mina konnte sich nicht mehr orientieren, dennoch war ihr bewusst, dass sie fielen. Für wenige Herzschläge gab es nichts außer ihr und der Naturgewalt, die an ihr zerrte. Der Sturz hatte fast etwas Befreiendes, fort von der Verantwortung, fort von ihrer Bestimmung. Doch so schnell, wie das Gefühl gekommen war, wurde es von einem anderen überdeckt: Panik!
Dann schlug sie auf. Die Arme um Minas Brustkorb lösten sich. Bis dahin war ihr nicht bewusst gewesen, dass Zados sie noch immer umklammert gehalten hatte. Jetzt aber war er fort. In der Ferne vernahm sie nochmals den Greif, doch sein Ruf klang unterdrückt, als sei sein Kopf unter Wasser. Jemand stöhnte, dann war nur noch der pfeifende Wind zu vernehmen. Mina rollte querfeldein, ohne einen Halt finden zu können, dann lag sie ruhig im Schnee. Kälte biss ihr ins Gesicht, und eine raue Sturmböe zerrte an ihrem Mantel. Sie hatte jede Orientierung verloren. Unzählige handgroße Eisbrocken prasselten gegen ihren Körper. Eigentlich – davon war sie überzeugt gewesen – müsste sie tot sein. Aber dass ihr jeder Knochen im Körper weh tat, widersprach dem.
Mühselig hob sie den Kopf, bis sie frei atmen konnte. Ihre Lunge zog sich vor Kälte zusammen, und ihre Sicht war verschleiert. Zados hatte mit dem halsbrecherischen Manöver ihren Absturz verhindert und dabei sein eigenes Leben riskiert. Doch was war aus ihm und seinem Reiter geworden?
Der Schneesturm tobte so stark, dass sie keine zwei Meter weit sehen konnte. Da vernahm sie Rufe aus der
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